Kurz bevor ich auf das Gymnasium kam, hatten meine Eltern sich scheiden lassen. Ich war seit der fünften Klasse immer ein guter Schüler gewesen, aber fiel auch durch Stören im Unterricht auf. Ich wurde oft vor die Tür geschickt und so bekam ich häufiger Klassenbuch-Einträge. Bei zu häufigen Einträgen musste man nachsitzen. Unser Klassenlehrer wusste sehr genau über die sozialen Verhältnisse der Schüler Bescheid. Die Schüler, die er sich ausgesucht hatte, waren vor allem Schüler alleinerziehender Mütter. Meiner Mutter gegenüber verkaufte er sich als besonders um mich bemüht, da ich ja keinen Vater hatte. Das war auch der Grund, warum mir meine Mutter nicht glaubte. Sie war der Meinung, dass er ein toller Lehrer ist, der sich so sehr für schwache Schüler einsetzt.

Tatsächlich erinnere ich mich sehr genau, wie unser Lehrer während des Unterrichts, vor allem während der Klassenarbeiten, von Schüler zu Schüler ging, uns berührte, umarmte und länger verweilte. Mit diesen Grenzüberschreitungen fing es an. Wenn ich nachsitzen musste, fragte er mich, was ich denn denken würde, was er jetzt machen soll. Daraufhin bat er mich, vor der Schule auf ihn zu warten. Draußen wiederholte er seine Frage und entschied dann, dass es doch viel einfacher sei, zu ihm nach Hause zu fahren. Dort hätten wir Ruhe.

Dann fuhren wir in seine große Altbauwohnung. Mein Lehrer führte mich in eines der hinteren Zimmer und verschloss die Tür. Es gab dort eine Art Sofa und ich saß ihm gegenüber auf einem Stuhl. Danach lief immer alles nach dem gleichen Schema ab: zunächst sagte er, dass ich mich sehr schlecht benommen hätte und fragte, wie das alles weitergehen soll. Dann fragte er wieder „was machen wir denn jetzt mit dir“. Ich erinnere mich, dass ich mich extrem hilflos und ausgeliefert fühlte. Er sagte, er müsse mich jetzt bestrafen und legte mich rittlings auf seine Knie. Dann zog er so stramm an meinem Hosenbund, dass die Naht meiner Hose extrem schmerzte. Er schlug lange immer wieder auf mein Gesäß, was ihn sichtlich zu erregen schien. Ich gehe heute davon aus, dass er sich dabei befriedigt hat. Ich war damals elf Jahre alt.

Ich betrachte die Suspendierung als völlig unzureichend im Sinne einer Aufarbeitung des geschehenen Unrechts.

Körperliche Züchtigung und Gewalt war ich aus meiner Familie gewohnt. Vielleicht war das ein Grund, warum ich die Übergriffe nicht öffentlich machte - neben der Scham, die ich empfand. Ich erinnere mich an die anderen Jungen, die aufgrund von Klassenbucheinträgen auf diese Art bei unserem Lehrer nachsitzen mussten, denn wir tauschten uns darüber auf dem Schulhof aus.

Mitte der 2000er Jahre wurde ich zu einem Klassentreffen eingeladen. Ich entdeckte auf der Liste der eingeladenen Personen auch den Namen dieses Klassenlehrers und Peinigers. Allein diese Tatsache löste in mir eine Re-Traumatisierung aus. Mir wurde schlagartig bewusst, dass der gesamte an meiner Person und an anderen Schülern begangene Missbrauch niemals benannt, geschweige denn aufgearbeitet wurde.

Ich nahm die Einladung zum Anlass, an alle ehemaligen Schüler im Verteiler meine Erlebnisse detailliert zu beschreiben. Die Reaktionen waren sehr unterschiedlich. Zum Teil wurden meine Schilderungen bestätigt, zum Teil folgten Bagatellisierung oder Ablehnung.

Ich verständigte die Schulleitung und später auch die Bezirksregierung. Die damalige Schulleiterin konnte meine Schilderungen offenbar sofort nachvollziehen. Es hätte immer wieder Anspielungen in der Schülerzeitung gegeben. Nach einiger Zeit kam es wohl zu einer Suspendierung des Lehrers. Ich glaube, dass die umfassenden Straftaten über mehrere Generationen fortgesetzt und lange totgeschwiegen worden sind. Ich betrachte die Suspendierung als völlig unzureichend im Sinne einer Aufarbeitung des geschehenen Unrechts. Ich gehe davon aus, dass nach meinem Verlassen der Schule weiterer Missbrauch an Jungen stattgefunden hat. Zu der Zeit war der Lehrer etwa 35‐40 Jahre alt und wurde später auch stellvertretender Schulleiter. Inzwischen ist er verstorben.

Für mich bleiben viele Fragen ungeklärt: Wie war es möglich, dass ein Lehrer Schüler mit zu sich nach Hause nimmt, ohne dass dies im Kollegium auffällt? Warum hat die Schulleitung keine Strafanzeige gestellt? Wie wurde der Missbrauch in der Lehrer- und Elternschaft behandelt? Wurden andere Schüler befragt? Meines Erachtens ist die ganze Verfahrensweise darauf ausgelegt gewesen, wenig Staub aufzuwirbeln - aus Angst vor Gesichtsverlust der Schule.