Meine Großeltern wohnten um die Ecke vom ehemaligen Pionierpark in der Wuhlheide in Berlin. Wir waren oft da. Ich fand das als kleiner Junge total spannend, bei der Pioniereisenbahn mitzufahren und war begeistert, dass da Kinder tätig sind.

Mit zehn Jahren, 1973, habe ich dann angefangen, selbst bei der Pioniereisenbahn zu arbeiten. Ich hab Signale gelernt, Weichenstellungen und Fahrkartenpreise. Wir bekamen bei der Berliner S-Bahn Freifahrt, wenn wir in unserer Kinderuniform gefahren sind. Das war schon etwas Besonderes. Irgendwann wurde ich Stellwerksmeister. Ich hatte nun auch die Aufgabe, dem Bahnhofsleiter das Berichtsheft vorzulegen. Der Bahnhofsleiter, der mich dann drei Jahre lang missbrauchte, war Gott sei Dank nur dienstags und freitags da.

Nach dem ersten brutalen Missbrauch in seinem Büro, bei dem er mir mit einem Paketband den Mund zu klebte und die Hände fesselte, drohte er: „Wenn du mit jemand darüber sprichst oder jemandem davon erzählst, wird das nächste Mal noch viel schöner.“ Ich konnte mit keinem sprechen. Ich bin raus und bin zum Bahnhof gelaufen. Hab mich einige Male auf dem Weg übergeben. Meine Mutter hielt mir einen Vortrag, dass sie nun die Uniform reinigen lassen muss.

Ich konnte es mir lange nicht erklären, wie das wöchentlich geschehen ist, ohne dass ich irgendwie gesagt hätte: Es geht nicht. Oder einfach nicht mehr hingegangen wäre.


Ich hatte niemanden, mit dem ich sprechen konnte.

Einmal habe ich vorne in der Fahrkartenausgabe gesessen. Ein Mädchen kam aus dem Bahnhofsleiterhäuschen heraus und klagte über starke Bauchschmerzen. Ich habe sie gefragt, ob ich die Sanitäter anrufen soll. Und sie sagte: Nein, bring mich einfach nur zur S-Bahn. Ich weiß nicht, ob was passiert war, aber ich glaube, ich war nicht sein einziges Opfer.

Mit dem 14. Lebensjahr hörte ich dort auf, weil die Mitgliedschaft bei den Pionieren dann vorbei war und man zur FDJ kam. Die Mitarbeit endete und damit auch der Missbrauch. Aber ich hab es auch danach nicht geschafft, mit irgendjemandem darüber zu reden. Das Verrückte ist: ich habe das damals nicht als Unrecht sehen können. Ich dachte, ich war der Schuldige. Denn ich hätte mich ja wehren müssen. Ich hatte niemanden, mit dem ich sprechen konnte.

Was ich später als Unrecht tatsächlich erkannt habe, war die Mauer. Schießbefehl. Stasi. Stacheldraht. DDR als Riesengefängnis. Und deswegen hab ich auch dagegen rebelliert und habe Fragen gestellt. 1986 hat die Stasi mich verhaftet und drei Jahre eingesperrt, bis ich freigekauft wurde. Nach dem Freikauf hat der Hamburger Senat mir sofort eine Psychotherapie angeboten. Und da hab ich gesagt: Ich gehe doch jetzt in keine Therapie und rede womöglich noch mit einem Mann darüber. Nein.

Später nach meiner Scheidung bin ich dann zusammengebrochen. Seither habe ich mehrere Therapien gemacht. Ich kann heute abends, Gott sei Dank, schon mal rausgehen auf den Hof, wenn es dunkel ist. Und das Gartentor zumachen. Das klappt, das geht. Noch nicht so lange, ich übe noch. Die Ängste werden weniger. Aber mein Täter von damals ist nie bestraft worden. Möglicherweise hat keins der Kinder gesprochen. Und selbst wenn. Der brauchte bloß die richtigen Ausweispapiere und die richtigen Leute kennen, dann passiert dem gar nichts. In der DDR war das kein Thema.

Ich wünsche mir, dass die Gesellschaft diese Taten an Kindern nicht länger tabuisiert. Dabei darf es keine Rolle spielen, ob die Taten in der Familie oder anderswo waren. Es kann nicht sein, dass ein Kind mit diesen Erlebnissen allein gelassen wird. Ich wünsche mir auch, dass es die Kommission weiter gibt, dass sich nicht irgendein Politiker überlegt: Ach, pff, sexuellen Missbrauch hatten wir mal jetzt drei Jahre, brauchen wir nicht mehr. Es ist schön, dass es Menschen gibt, mit denen man darüber reden kann. Die zuhören, die ein Interesse haben. Ich glaube mit dieser Öffentlichkeitswirksamkeit kann man auch Menschen bewegen, die nicht wirklich hingucken. Die aber dann mit dem Herzen dabei sind und fühlen.