Aufgewachsen bin ich in der DDR, in einem kleinen Ort. Ich bin Ende 40, habe ein Hochschulstudium absolviert, führe mit meinem Mann eine Firma und habe zwei Kinder. Alles ist gut.

Doch im Inneren sieht es bei mir leider nicht immer so toll aus. Die ersten Jahre meines Lebens waren unbeschwert. Ich wurde geliebt und umsorgt, vor allem durch meine Großmutter. Doch nach einiger Zeit trat ein Stiefvater in mein Leben. Ich nahm den Mann als Vati an. Als ich elf Jahre alt war, brach sich mein Stiefvater den Arm und musste demzufolge zu Hause bleiben. Meine Mutter ging arbeiten. Ich kam also aus der Schule nach Hause und mein Stiefvater lag auf dem Sofa, mit Fotos in der Hand und erigiertem Penis. Er zeigte mir die Fotos und animierte mich zum "Nachmachen" der Szenen auf einigen Bildern. Er zeigte mir, wie "Zungenkuss" geht. Das war irgendwie eklig, aber zugleich aufregend. Körperliche Gewalt war nicht im Spiel. Eines wusste ich ganz genau: „Das dürfen wir niemals der Mutti sagen!“ Dies bedeutete eine große Last, hatte ich mich doch auf diese Sache eingelassen. Es gab kein Zurück und ich fühlte Schuld und Scham! Nach außen hin wirkte ich ganz normal, hatte Schulfreunde, war fröhlich und immer eine der besten Schülerinnen in der Klasse, ohne Mühe. Keineswegs sah ich wie eine "Lolita" aus, sondern war ein sehr kleines unscheinbares Mädchen.

So ging es circa zwei Jahre. Ich wurde älter, verständiger und sagte zunehmend Nein. Das hat sogar geholfen, ging dafür aber dann mit zunehmenden Schikanen im Alltag einher, eigentlich nicht zu übersehen. Mutti sagte nur: „Streitet bitte nicht, vertragt euch doch!“ Sie wünschte sich eine heile Familie, sah nicht, was sie nicht sehen wollte.

Als ich 15 Jahre alt war, wachte ich eines Morgens auf, weil der Stiefvater neben mir im Bett lag und mich sehr fest umklammerte. Ich versuchte, ihn abzuschütteln, aber es gelang mir nicht. Irgendwann kam es dann zur Penetration. Ich habe es geschehen lassen, weil es für mich die einzige Möglichkeit war, ihn wieder los zu werden. Anschließend habe ich ihn zur Rede gestellt und ihm gesagt, dass dies eine Vergewaltigung war. Laut meiner Erinnerung hat er es nicht abgestritten und wirkte sogar etwas betroffen. Seitdem habe ich mich in meinem Zimmer oder beim Duschen immer eingeschlossen.

Nach der Vergewaltigung habe ich sogar mit dem Gedanken gespielt, zur Polizei zu gehen. Doch das ging nicht, dann wäre ja herausgekommen, dass ich früher „mitgemacht“ habe. Außerdem hatte ich die Befürchtung, dass man über mich spotten könnte. Niemals konnte mir vorstellen, über das Erlebte jemals zu sprechen. Das war einfach unmöglich. Ich hatte ja auch gar keine Worte dafür. So ging ich meinen Weg: Abitur, Studium, Arbeit, Hochzeit, Mutter werden. Ich verdrängte das Erlebte und glaubte selbst, ich hätte ein heiles Elternhaus.

Besonders schlimm ist für mich, dass meine Mutter weiterhin mit dem Stiefvater fröhlich zusammenlebt.

Irgendwann hörte ich zum ersten Mal von "sexuellem Kindesmissbrauch". Da dämmerte mir, dass es das war, was mir widerfahren ist. Mit der Zeit bekam ich mit, dass es so viele Betroffene gab, überall. Bisher dachte ich, das sei nur mir passiert. Doch reden konnte ich trotzdem nicht, das ist mir damals überhaupt nicht in den Sinn gekommen! Das änderte sich, als ich erfuhr, dass ich eine Tochter bekommen würde und wir gerade im Begriff waren, in den gleichen Ort umzuziehen. Plötzlich musste ich mich mit den alten, verdrängten Geschichten auseinandersetzen. Ich konnte es doch unmöglich zulassen, dass meine Tochter dieselben schlimmen Erfahrungen machen muss, nur weil ich schweige. Ich zögerte lange, bevor ich mich meinem Mann anvertraute. Ich hatte große Angst, dass es unserer Ehe schaden könnte. Doch das bisher Unmögliche schaffte ich. Ich habe darüber gesprochen! Mein Mann reagierte sehr verständnisvoll. Bis heute hält er zu mir. Nun kam das Schwerste: ich musste mit meiner Mutter sprechen. Sie war natürlich geschockt, glaubte mir jedoch und versicherte mir, nichts bemerkt zu haben. Sie hat auf jeden Fall den Stiefvater mit den Vorwürfen konfrontiert, aber er streitet alles ab. Das war vorauszusehen.

Inzwischen sind 16 Jahre vergangen. Mit meiner Mutter wollte ich nicht brechen, da uns ja trotz allem noch viele andere Dinge verbinden. Mein früheres Zuhause besuche ich nicht mehr, zum Stiefvater gibt es keinen Kontakt. Darüber bin ich auf jeden Fall erleichtert. Besonders schlimm ist für mich, dass meine Mutter weiterhin mit dem Stiefvater fröhlich zusammenlebt, Feste feiert, Reisen unternimmt. Wie kann man mit jemandem zusammenleben und fröhlich sein, der das eigene Kind missbraucht und vergewaltigt hat? Das ist ein großer Schmerz: Der Hass auf meine Mutter, die ich doch eigentlich liebe, das Ausgeschlossen sein aus den Familienkreisen, Einsamkeit, die fehlende Bindung zwischen meiner Mutter und meinen Kindern. Alle betrachten den Stiefvater nach wie vor als einen guten Bürger, es gibt keine Verantwortung für die Verbrechen. Ich wüsste gern, wie andere Betroffene mit solchen Problemen umgehen.

Meiner Meinung nach hätte ich den sexuellen Missbrauch nicht erleben müssen, wenn ich aufgeklärt gewesen wäre. Dann hätte ich von Anfang an Nein sagen können. Vielleicht hätte ich auch gewusst, wo ich Hilfe finden kann. Deshalb ist Aufklärungsarbeit so wichtig. Gut wäre ein Ansprechpartner für die Kinder vor Ort, am besten in den Kindergärten und Schulen. Es ist gut und anstrengend zugleich, darüber zu schreiben. Ich möchte gern zur Aufarbeitung solcher Verbrechen beitragen und möglichst auch zur Verhinderung solcher Taten in Zukunft.