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Ich wurde in der Zeit um 1970 im Alter von neun bis 15 Jahren von meinem Vater, einem evangelischen Pfarrer, regelmäßig sexuell missbraucht.
Dies geschah morgens an schulfreien Tagen, nachts oder wenn meine Mutter verreist war. Mein Vater war latenter Alkoholiker mit schwerer Kindheit und Jugend. Seine Mutter erzog ihn mit grausamer Härte, sein Vater war lange abwesend durch Kriegseinsätze. Er selbst war bei der Hitlerjugend und erlitt in Schule, Kinderlandverschickung und später als Flakhelfer Schikanen und Quälereien.
Ich war ein ungewolltes Kind: Meine Eltern mussten heiraten. In den ersten drei Lebensjahren hatte mein Vater aus beruflichen Gründen kaum Kontakt zu mir. Da war ich noch ein offenbar geliebtes, behütetes und fröhliches Mädchen in der förderlichen Umgebung der Großeltern. Der erste schwere Missbrauch fand statt, als meine Mutter zur Geburt eines meiner Geschwister im Krankenhaus war. Vorher gab es schon Berührung meiner Brust beim gemeinsamen Mittagsschlaf mit den Eltern; ich musste immer bei meinem Vater liegen.
Familiär herrschte bei uns ein totalitäres System von Gewalt gegen die Ehefrau und uns Kinder. Es gab brutale Strafen bei Zuwiderhandlungen, Verheimlichungen oder kleinsten Grenzübertretungen: Schläge ins Gesicht, Ohr abziehen und drehen, Haare ziehen, Tritte oder aber bedrohliches Langzeit-Ignorieren; es geschahen willkürliche anlasslose Quälereien oft auch nachts. Es gab Vorschriften zur Kleiderauswahl bis zum väterlichen Kauf des ersten Büstenhalters. Mit seiner inquisitorischen Ausfragerei wurde alles strengstens kontrolliert: Briefe, Telefonate, Gespräche, Freundschaften mit Gleichaltrigen, spärliche Verwandtschaftskontakte. Eine Privatsphäre war nicht möglich. Auch innerhalb der Familie spaltete er durch Bevorzugung, Herabwürdigung oder Schmähung. Ich konnte mich nicht wehren. Als ich einmal mit einer befreundeten Gemeindeschwester wegen seines Verbotes, bei ihr Flöte zu lernen, darüber geredet hatte, hat er mich hinterher nachts aus dem Bett geholt und mit dem Holzbügel auf den nackten Po verprügelt, dass ich Prellungen und Striemen hatte.
Wenn meine Mutter versuchte, gegen Gewalt oder Ungerechtigkeit zu intervenieren, gab es Streit und er hat sie brutal verprügelt. Einmal fragte sie ihn, warum er mich so anfasse, da herrschte er sie an, das sei doch nichts und ich gab ihm schnell vor Angst Recht. Ich hatte Angst, dass er meine Mutter schlägt, und ich hatte schreckliche Angst zum Jugendamt oder zur Polizei zu gehen oder mich jemandem in der Schule anzuvertrauen. Sie hätten mich zurückgebracht und ihm mit seiner geschickten Rhetorik, auch als Amtsperson, geglaubt. Für mich war er damals des Totschlagens fähig: Er hatte Mamas Lieblingskatze mit der Bierflasche erschlagen.
Er hatte zu Konfirmandinnen und jungen Mädchen ein für mich verdächtiges auffälliges Verhalten. Er war Verbalerotiker und allzu fürsorglich zu Mädchen und jungen Frauen. Jugendgruppen leitete er nach pädagogischen Schriften protestantischer Anleiter mit den zeitgeistüblichen teils sexualisierten Gruppenspielen, in die er sich selbstverständlich als gleichberechtigter Mitspieler einordnete. In Konfirmandengruppen betrieb er mit offiziellen bebilderten Aufklärungsbroschüren, wie „Wenn man erwachsen wird…“, Sexualaufklärung. Bei amtlichen Beschwerden gegen ihn hat meine Mutter ihn immer gedeckt und abgeschirmt. Mein Vater hatte wegen seiner chaotischen eigenartigen Amtsführung auch Beschwerden aus den Gemeinden. Ich weiß von einem Disziplinarverfahren und einer Versetzung. Beide führten gemeinsam seine Amtskorrespondenz, auch bei allen möglichen Abmahnungen oder Attacken gegen ihm unangenehme Leute und Institutionen. Triumphierend präsentierte uns mein Vater das Ergebnis seiner gefürchteten psychologischen Dienstuntersuchung durch das Landeskirchenamt. Wir hatten gehofft, er würde dort als ein Missetäter entlarvt oder wenigstens seine Wesensstörungen aufgedeckt. Aber der Psychologe hatte keinerlei Beanstandungen gegen ihn.
Ich hatte schreckliche Angst zum Jugendamt oder zur Polizei zu gehen. Sie hätten mich zurückgebracht und ihm mit seiner geschickten Rhetorik, auch als Amtsperson, geglaubt.
Durch vier Schulortwechsel fiel meine Lage in den Schulen nicht so auf. Ich galt wohl als verklemmtes einzelgängerisches Kind von einem überengagierten Vater. Es hat niemand seitens der Schule interveniert, als ich in der siebten Klasse nicht mit ins Landschulheim durfte. Einmal habe ich im Schulbus feste ein Gummiband um die Hand geschnürt, um eine Blutvergiftung herbeizuführen und zu sterben, aber das tat zu weh, ich machte es ab und ging dann doch zur Schule. Meine Korrektive waren Bücher, Beten, mein Teddy, ausländische Brieffreundinnen und der Schulunterricht ganz generell. Ich hatte eine gute Freundin, konnte ihr aber erst als Erwachsene davon etwas berichten.
Der Missbrauch hörte schlagartig auf, als während einer Reise mein Tagebuch gefunden wurde. Erst hat er tagelang kein Wort zu mir gesagt und wie so oft nur kalt und böse geguckt. Ich befürchtete, es geschieht bald etwas ganz Furchtbares. Dann hat er mich zur Rede gestellt und gesagt, das Tagebuch wäre unauffindbar vernichtet. Ich hatte darin manches geschildert, mein Leid von der Seele geschrieben und ihm Geisteskrankheit unterstellt. Damit fanden der Missbrauch und auch die körperliche Gewalt in der Familie ein Ende. Ich konnte das nicht fassen, aber es war tatsächlich so. Danach hat er oft nächtelang mit mir geredet, über seine Kindheit und Jugend, über meine beiden Großeltern, über seine Zwangsehe, über meine von meiner Oma geplante Abtreibung, auch in der Nacht vor meiner Abi-Prüfung. Das ging oft bis zwei Uhr morgens. Er hatte sonst keinen dafür.
Nach dem Weggehen hatte ich oft Flashbacks. Ich hatte ständig Sorge wegen der zurückgebliebenen Familie und Haustiere. Ich dachte oft, ich sollte die Verhaltensauffälligkeiten und Gefahren durch meinen Vater anzeigen oder melden, aber ich fürchtete, dass es dadurch erst recht wieder eskaliert, statt sich zu verbessern.
Später, viel später begann ich mit der Auseinandersetzung. Ich habe flickenweise und stückweise und hier und da mich eingebracht und die Erfahrungen ausgespuckt. Dabei bin ich stärker und mutiger geworden. Es hat mir nach der Offenlegung meiner Missbrauchsbiografie geholfen, in Archiven meine Familienvorgeschichten im historischen Zusammenhang zu erforschen. Ich bin auf viel Verschwiegenes gestoßen. Inzwischen habe ich ein fragmentarisches, aber klareres Bild.
Ich fände es wichtig, eine Art Handreichung zu entwickeln, wie das Umfeld von erwachsenen Betroffenen sexuellen Kindesmissbrauchs reagieren kann, wenn sie später davon erfahren. Was braucht so eine verletzte Seele an Zugang? Wie kann das destruktive System Herkunftsfamilie im Nachhinein geklärt, verbessert, geheilt werden? Wie können Abgrenzung, Achtung, Nähe und Distanz, Leid-Anerkennung und veränderte Wahrnehmung erfolgen? Wie geht man im Alter in der Pflege oder im Hospiz damit um?
Für meine Kinder wäre es sicherlich wichtig gewesen, ich hätte Hilfen in der Erziehung und Unterstützung zur persönlichen Aufarbeitung gehabt und angenommen. Diesbezüglich müsste es konkrete Angebote an Schwangere und junge Eltern geben: Wie kann aktiv vermieden werden, erlittene Trauma und Beschädigungen transgenerational weiterzugeben?
Ich lebe nun lange schon in einem sicheren Umfeld. Ich bin in meiner Ehe inzwischen zunehmend glücklich und geborgen. Nachträglich geholfen haben mir alle jene Menschen, denen gegenüber ich mich öffnen und offenbaren konnte.
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