Ich will mit meinem Auftritt nicht nur aus der Vergangenheit heraus aufrütteln und auf die Langzeitfolgen sexuellen Missbrauchs hinweisen, sondern auch andere Menschen auffordern, nicht wegzusehen und nicht wegzuhören.

Ich bin in einer Kleinstadt als Einzelkind aufgewachsen. Meine Eltern gingen bereits auf die 40 zu, als ich auf die Welt kam. Für beide war es die zweite Ehe. Mein Vater war Alkoholiker und gewalttätig. Die Polizei stand mehrmals wegen häuslicher Gewalt vor der Tür, alarmiert von den Nachbarn. Manchmal nahmen sie meinen Vater für eine Nacht mit. Meine Mutter holte ihn immer wieder raus, weniger aus Liebe als aus Existenzangst.

Um mich kümmerte sich keiner der Polizisten. Mehrmals quartierte mich meine Mutter danach bei ihrer Cousine ein. Die Cousine wusste also, dass bei uns etwas nicht stimmte, aber unternahm nichts. Die Nachbarn schwiegen, niemand sprach mehr mit uns. Ich kann mich erinnern, dass ich meinen Vater schon immer als Bedrohung empfunden habe und er alles sexualisierte. Als Kind musste ich zusammen mit ihm Mittagsschlaf im Ehebett halten. Danach meinte er zu meiner Mutter: ,,Na, da hatte ich aber einen heißen Feger im Bett.“ Er kam auch gerne wie zufällig in mein Zimmer, wenn ich mich umzog, oder in die Toilette. Weder Kinderzimmer noch Toilette konnte man abschließen. Am schlimmsten waren seine Geburtstage. Ich ekelte mich davor, ihn zu umarmen und ein Geburtstagsküsschen zu geben. Er drückte mich immer länger und intensiver, je älter ich wurde. Dann kamen Sprüche wie: ,,Oh, da war aber ein Stück Zunge dazwischen!“ oder „Oben war es weicher als unten!“ Meinen Barbie-Ken legte er auf meine Barbiepuppe mit weit gespreizten Beinen und grinste: ,,Das kommt auch auf dich zu!“

Wirklich Einhalt geboten hat ihm meine Mutter nie. Im Gegenteil, sie befeuerte das Ganze noch. ,,Sie braucht jetzt einen BH!“ oder sie zeigte ihm meine blutbefleckte Unterhose, als ich das erste Mal meine Periode hatte: ,,Guck mal, nun ist es soweit.“ Im Aufzug griff er mir zwischen die Beine, bei einem Friedhofsbesuch verlangte er, dass ich sein Glied anfasse, und eines Abends saß er an meinem Bett und zog mich oben herum aus, während meine Mutter angetrunken nebenan vor dem Fernseher saß. Ich musste sonntags mit ihm spazieren gehen und dann erzählte er mir Zoten. Für die Nachbarn und Bekannten meiner Eltern sah es stets aus, als würde ich mich super mit meinem Vater verstehen. Meine Mutter tat alles, um zu vertuschen und eine heile Fassade aufrechtzuerhalten ‒ trotz Alkoholexzessen und Polizeieinsätzen. Oder sie stand als armes Hascherl da, als aufopfernde Mutter. Dabei war sie co-abhängig und Mittäterin.

Die Täter wollten uns zerstören, aber wir haben überlebt.

Ich hatte immer die modernsten Klamotten und bekam ein dickes Taschengeld, um das mich meine Freundinnen beneideten. Weder in der Schule noch im Kreis meiner Freundinnen war ich verhaltensauffällig, meine Freundinnen besuchten mich auch zu Hause, aber nur wenn mein Vater nicht da war, denn sie mochten ihn instinktiv nicht. Nie habe ich mich jemandem anvertraut, nicht meinen Freundinnen und auch nicht dem Vertrauenslehrer, der mich einmal fragte, ob mich etwas bedrücke, ich sei viel zu ernst für mein Alter. Ich hatte Angst ins Heim zu kommen. Außerdem habe ich mir tatsächlich Sorgen um meine Mutter wegen „der Schande“ gemacht!

Ich bin mir sicher, dass meine Mutter wusste oder zumindest ahnte, dass er mich befummelte und betatschte, wie ich es für mich nannte. Das Wort „Missbrauch“ erfuhr und erkannte ich erst viel später. Als Erwachsene sprach ich meine Mutter darauf an, doch sie wiegelte ab und verweigerte das weitere Gespräch. Nach dem Tod meiner Mutter brach der Kontakt zu meinem Vater erneut ab. Er hatte irgendwann eine Lebensgefährtin und verstarb vor einigen Jahren in einem Pflegeheim. Das Sozialamt wollte, dass ich für seine Unterbringung aufkomme, aber ich nahm einen Anwalt und klagte. Dafür musste ich über den Missbrauch berichten, was mich sehr aufwühlte. Doch als ich den Rechtsstreit gewann, war das wie eine späte Genugtuung: Endlich glaubte mir jemand.

Trotz der Ärzte und Therapeuten werden mich diese Erlebnisse als Albträume·und Flashbacks verfolgen, bis ich sterbe. Ich hatte bedauerlicherweise nie die Kraft meinen Vater anzuzeigen, und damit bin ich nicht allein. Mein dringender Appell geht an alle Mütter, Omas, Tanten, Lehrer, Freunde, Bekannte und Nachbarn: Bitte kümmern Sie sich und machen lieber einmal zu viel Meldung als gar nicht. Sehen Sie nicht weg oder denken: „Das geht mich nichts an“ oder „Damit will ich nichts zu tun haben“. Sie retten eine Kinderseele, die vielleicht sonst nie richtig erwachsen werden kann und nie zur Ruhe kommt.

Heute lebe ich in einer schönen Partnerschaft, habe mich aber bewusst gegen Kinder entschieden. Ohne diesen Menschen an meiner Seite würde ich vielleicht nicht mehr leben. Er hat eine unendliche Langmut mit mir, Verständnis für meine Launen und lässt mich erfahren, was echte Liebe ist. Deshalb möchte ich auch alle Betroffenen auffordern, nie die Hoffnung auf die Liebe aufzugeben. Wir haben sie alle verdient. Die Täter wollten uns zerstören, aber wir haben überlebt und tun das hiermit kund. Wir sind stärker als sie!