In meiner Kindheit war ich zwischen dem sechsten und dem 13. Lebensjahr von sexuellem Missbrauch innerhalb der Familie durch meinen Vater betroffen.

Geboren bin ich Mitte der 1960er-Jahre, als fünftes von sechs Kindern. Ich hatte den Missbrauch verdrängt und mich nur über Jahrzehnte gewundert, was mit mir los ist, warum ich nicht wirklich leben kann. Auslöser für das Auftauchen von Erinnerungen und Bildern war der Tod meiner Hündin.

Meine Hündin war alles für mich, und so brach alles weg, als sie starb. Ein knappes Jahr nach den ersten Erinnerungen habe ich das Thema gegenüber den einzelnen Familienmitgliedern angesprochen. Ich war mir sicher, dass mir niemand glauben würde. Umso überraschter war ich, dass alle meine Geschwister mir sofort Glauben schenkten. Zwei Geschwister hatten damals sogar gegenüber den Eltern geäußert, was sie nachts gesehen hatten. Mein Bruder wurde daraufhin von Vater verprügelt. Meiner Schwester wurde eingeredet, dass sie geträumt habe. Von Seiten der Eltern kamen hingegen nur verletzende Äußerungen. Mein Vater hat es nicht bestritten, er sagte einfach, er erinnere sich an nichts. Meine Mutter versuchte, meine Glaubwürdigkeit bei meinen Geschwistern infrage zu stellen. Von der Mutter im Stich gelassen zu werden, hat tiefe Wunden hinterlassen. Ich war ein sehr ängstliches und stilles Kind. Meine Geschwister wussten, dass Mutter mir nicht helfen würde. Unser Vater wusste es. Und ich wusste es auch.

Es ist nicht wahrscheinlich, dass ich als Kind jemals den Versuch gemacht habe, mit jemanden über das zu reden, was Vater mit mir gemacht hat. Es gab keinen Ansprechpartner. Wir hatten kaum Außenkontakte und auch wenig Kontakt zu Verwandten. Eine staatliche Stelle wurde nie eingeschaltet. Nach außen zeigten sich unsere Eltern als fürsorglich. Sonntags gingen wir in die Kirche. Wir besuchten die Schule, waren unauffällig gekleidet und zeigten keine körperlichen Auffälligkeiten. Bezogen auf Ernährung, Kleidung, Unterbringung wurden wir gut versorgt. Unsere Mutter ging auch zu den Elternabenden. Jahr für Jahr wurde sie von meinem Klassenlehrer darauf hingewiesen, dass ich nicht rede: „Dein Lehrer hat gesagt, Du redest nicht. Dann sag halt auch mal was.“ Damit war das Thema wieder für ein Jahr abgehakt. Sie hat nie gefragt, warum ich nicht rede, geschweige denn, dass sie Hilfe gesucht hätte. Und auch seitens der Lehrer geschah nichts weiter. Ich denke, sie waren dankbar für eine so ruhige, nicht störende Schülerin wie mich.

Die Erinnerungen sind kein fortlaufendes Ereignis, dass niedergeschrieben werden kann. Es sind einzelne Bilder, Körpererinnerungen. Gefühlsbilder oder Körperempfindungsbilder könnte man es nennen. Ich weiß nicht, ob es zu verstehen ist, wenn man es nicht selbst kennt. Mein Vater kam nachts in unser Schlafzimmer. Er hat mich geweckt, falls ich überhaupt schlief oder nicht schon am Geräusch der Tür aufgeschreckt bin, um dann in Angst zu erstarren. Er legte sich nackt zu mir unter die Decke. Danach: dieses abwehrende Gefühl bezogen auf meinen eigenen Körper, meine eigene Haut abkratzen wollen ... Ekel, Scham ... allein und verloren ... weg wollen ... stilles Weinen. Über allem das Nicht-Verstehen. Ich hätte keine Worte gehabt, wäre irgendwo ein Hörer gewesen. Ich wusste ja überhaupt nicht, was das ist, um was es geht. Abend für Abend über viele Jahre bin ich mit Angst und Bauchweh ins Bett gegangen. Ich habe nicht versucht zu schlafen, lag nur da, den Rücken an der sicheren Wand, mit angezogenen Beinen, zugedeckt bis über die Ohren. Im Sommer vor meiner Einschulung gab es eine einmalige Situation mit einem Bekannten meiner Eltern in einer Holzhütte auf unserem Grundstück. Woran ich mich erinnere: der harte Boden unter mir, der Mann über mir, sein Geruch, seine Brille, die mir ins Gesicht gefallen ist. Ich bin sicher, dass das Ereignis nicht unbemerkt blieb. Aber es wurde unter den Teppich gekehrt.

Ich hätte keine Worte gehabt, wäre irgendwo ein Hörer gewesen.

Der sexuelle Missbrauch, verbunden mit der Vernachlässigung durch meine Mutter hat mein ganzes bisheriges Leben nachteilig geprägt. Vorrangig war die Angst und Unsicherheit, überall und ständig. Ich habe in der Familie wenig gesprochen und in der Schule höchstens mal ein Ja oder Nein herausgebracht. Ich hatte nie eine Freundin. Der sicherste Ort in der Schule war mein Stuhl und der Tisch davor. Stuhl und Tisch waren der feste Bezugspunkt. Pausen mussten irgendwie überstanden werden. Bestenfalls wurde ich nicht wahrgenommen, manchmal verspottet. Nach der Fachschulreife musste ich mir einen Beruf aussuchen. Ich konnte nichts machen, was mit Menschen zu tun hat, wo man reden muss. Der Berater beim Arbeitsamt schlug eine Ausbildung zur Bauzeichnerin vor.

Ab meinem 17. Lebensjahr verdiente ich also mein erstes eigenes Geld. Ich wusste nichts mit Geld anzufangen, ich hatte keine Wünsche, ich wusste nicht einmal, wozu ich eigentlich lebte.

Dazu die ständigen Selbstzweifel: Was stimmt  nicht mit mir?  Als schließlich meine Hündin in mein Leben kam, wurde sie zu meinem Lebensinhalt. Stundenlang war ich mit ihr draußen in der Natur, im Wald, dort fühlte ich mich sicher. Meinen Beruf führte ich später von meiner Wohnung aus: Anfangs noch von Hand am Zeichenbrett, so musste ich regelmäßig zu den Auftraggebern, um die fertigen Pläne abzuliefern. Dann kam die Umstellung auf Computer und es war nicht mehr nötig zu den Auftraggebern zu fahren. Ich sah keine Veranlassung noch irgendwo hin zu fahren, auch wenn andere meinten, „damit man sich mal wieder sieht“. Ich habe das gar nicht verstanden: Ich hatte nicht das Bedürfnis jemanden zu sehen. Ich wusste nicht wozu. Ich habe nichts dabei gefühlt. So kam es, dass ich fünf Jahre lang das Haus fast nur noch für die Ausflüge in den Wald verließ. Nahrungsmittel bestellte ich mir im Internet.

Als meine Hündin starb, fiel ich ins Loch und suchte mir Hilfe. Ich machte erste Versuche, in die Welt der Menschen zu gehen und ging halbtags in ein Ingenieurbüro zum Arbeiten. So nach und nach habe ich mein Selbstbewusstsein etwas aufpoliert, indem ich anderen bei den unterschiedlichen Arbeiten geholfen habe. Das hat mir gut getan. Mein Tun wurde anerkannt und ich auch. Immer deutlicher wurde mir aber auch, dass ich mich nicht wirklich auf Menschen einlassen konnte, innerlich immer auf Abstand blieb. Dann wurde ich krank. Inzwischen bin ich deswegen berentet. Die Ärzte haben mir das Leben gerettet. Seit es mir körperlich wieder besser geht, mache ich Therapie. Um meine Vergangenheit aufzuarbeiten und auch, um besser mit der Erkrankung und den neuen Einschränkungen zurechtzukommen. Meine Therapeutin hilft mir, die Krankheit und meine Vergangenheit zu verkraften und aufzuarbeiten. Sie hilft mir, mein neu geschenktes Leben zu beleben.

Ich hatte keine Kindheit, ich hatte auch keine Jugend. Nichts was man normalerweise im Jugendalter erlebt und macht, habe ich gelebt. Ich hatte nie eine Freundin, geschweige denn eine Beziehung. Familie oder Kinder gab es noch nicht mal als Idee in meinem Leben. Ich habe einen Beruf gelernt, der meiner Situation angemessen war, aber nicht meinen Interessen entspricht. Was ich gut gelernt habe, ist zu funktionieren und mir möglichst nichts anmerken lassen. Und was zu meiner Natur wurde, ist das Nie-richtig-da-Sein. Heute weiß ich, man nennt es dissoziieren. Warum ich so ausführlich berichte? Weil ich zu viele Jahre schweigend verbracht habe. Heute ist sexueller Missbrauch kein Tabuthema mehr, und ich hoffe, dass Lehrer aufmerksamer sind, als es zu meiner Zeit der Fall war. Ich habe mich dafür entschieden, meinen Bericht zur Verfügung zu stellen, in der Hoffnung, dass ich durch meine Erfahrungen dazu beitragen kann, Kinder besser zu schützen. Und damit meine Vergangenheit einen Sinn bekommt, etwas Positives für andere bewirkt.