Mit drei Jahren trennten sich meine Eltern. Nach einigen Jahren lernte meine Mutter einen Mann kennen, den sie heiratete und mit dem sie noch zwei Kinder bekam. Damals war ich acht Jahre. Für mich war es normal, ihn ständig nackt in der Wohnung rumlaufen zu sehen, auch dass er trank. Eines Nachts wachte ich auf, denn irgendwas bewegte sich unter meiner Decke. Ich konnte es nicht deuten, jedoch fühlte ich mich sehr unwohl und hatte seitdem Angst vor ihm. So fing es an.

In meinem Zimmer wurde eine Kamera aufgestellt, mit dem Hinweis: ,,Dass ich immer sehe, ob du wirklich schläfst.“ Wofür diese Aufnahmen gemacht wurden und was mit ihnen passiert ist, kann ich heute nicht mehr ausfindig machen. Ich fing wieder an, nachts ins Bett zu machen. Meine Mutter hielt es für ratsam, mich für vier Wochen in ein Krankenhaus zu bringen. Auch da änderte sich nichts. Ich fühlte mich allein. Und ich war auch selbst schuld, und dreckig war ich auch.

Wir wohnten in einem Einfamilienhaus mitten im Wald. Wir waren sehr isoliert. Anschluss fand ich schwer, in der Schule wurde ich gemobbt. Ich versuchte damals, mit einer Religionslehrerin zu sprechen. Dies schlug fehl, und wieder war ich mit meiner Angst nach Hause zu kommen und mit meiner Schuld allein. Meine Aufgaben waren damals: In die Schule gehen, heimkommen, Haus putzen, mich um meine Brüder kümmern. Meine Mutter schlief meist tagsüber, da sie nachts als Köchin arbeitete. Ich war diesem Menschen, immer und zu jeder Zeit, ausgeliefert.

Ich wurde immer müder und müder in meinem Leben.

Mit 13 Jahren fing ich an, mich an den Oberschenkeln zu ritzen, ich konnte das alles nicht mehr ertragen. Es gab viel Gewalt in unserer Familie, er schlug meine Mutter und beleidigte mich als Schlampe und als Nichtsnutz. Irgendwann verließ meine Mutter diesen Mann. Wir zogen in eine neue Wohnung, endlich in Sicherheit. Weit gefehlt. Denn meine Mutter ließ mich mit meinen Brüdern allein zu Hause. Da klingelte es, und als ich aus dem Fenster sah, stand der Vater meiner Brüder da und wollte seine Kinder sehen. Ich war starr vor Angst und überfordert.

Als ich 14 Jahre war, lernte meine Mutter wieder einen Mann kennen. Er kümmerte sich um mich, war interessiert an meinem Leben. Er war selten da, denn er war LKW-Fahrer. Eines Tages war meine Mutter nicht im Haus, er küsste mich, berührte mich, wie man jemanden in dem Alter nicht berührt. Mir war das sehr unangenehm, doch er meinte, das wäre völlig in Ordnung und doch auch schön, oder? Ich wusste nicht, was da passierte, doch ich erinnere mich, dass es nicht schön war, dass ich das nicht wollte, dass ich mich unglaublich dreckig fühlte. Mit meiner Mutter sprach ich darüber nicht. Schließlich erzählte er meiner Mutter, er würde mich lieben. Sie rastete aus und schrie, ich stürmte voller Angst aus der Wohnung und versteckte mich auf einem Parkplatz zwischen den Autos. Als ich nach Hause kam, war er weg und meine Mutter redete über Wochen kaum ein Wort mit mir. In der gesamten Familie wusste jeder davon. Ich dachte, etwas falsch gemacht zu haben. Meine Mutter ließ mich immer wieder spüren, dass ich schuld sei, dass ich die Verantwortung für alles trage. Damit war mein Schicksal besiegelt. Denn keiner ahnte, was das alles für mich bedeutete, niemand war da, mit dem ich hätte reden oder irgendwas tun können.

Ich lebte irgendwie weiter, machte meine Schule, eine Ausbildung. Ich wurde immer müder und müder in meinem Leben. Schließlich fand ich die Adresse von Wildwasser e.V. und schaffte es nach einigen Anläufen, dorthin zu gehen und auch zu bleiben und zu reden. Ich suchte Hilfe bei einem Psychiater, der den Ernst der Lage erkannte und mir eine Therapeutin vorschlug. Dort kann ich bis heute eine Traumatherapie machen.

Es ist sehr schmerzhaft und traurig, wenn einem bewusst wird, wie sehr man manipuliert und missbraucht wurde. Doch das Wichtigste für mich war, dass es tatsächlich Menschen gab, die mir glaubten und halfen. Rückblickend glaube ich, wenn „sexueller Missbrauch“ in der Schule thematisiert worden wäre, hätte ich wenigstens gewusst, dass da etwas Schreckliches passiert ist und ich nicht schuld bin. Es sollte verpflichtende Präventionsprojekte in allen Einrichtungen mit Kindern und Jugendlichen geben sowie Weiterbildungen in allen Berufen, die mit Menschen zu tun haben.

Ich wünsche mir eine Gesellschaft, die über dieses Thema redet, und eine Politik, die diesem Verbrechen den Kampf ansagt und es mit voller Härte bestraft.