Der sexuelle Missbrauch fand zwischen meinem sechsten und neunten Lebensjahr und zwischen meinem elften und vierzehnten Lebensjahr statt. Es waren zwei Täter innerhalb meiner Familie: mein Opa und mein Vater.

Bei meinem Opa war der Missbrauch in unserem Kinderzimmer. Ich teilte mir das Zimmer mit meiner Schwester. Er wollte alles umbauen und wir durften dabei "helfen". Es ging um seine Befriedigung und er machte auch bei mir etwas. Ich lag dabei auf einer Tapetenstreichunterlage. Meine Mutter sagte mir damals, wenn was wäre, dürfte ich es ihr jederzeit sagen. Ich verstand damals gar nicht, dass sie genau so etwas meinte. Ich dachte das alles sei ein Geheimnis, das jedes Kind mit seinem Opa teilte. So hat er es mir damals erklärt.

In der vierten Klasse hatte ich Sexualkundeunterricht. Da begriff ich, dass das, was mein Opa macht, nicht richtig ist und sagte es meiner Mutter. Als ich es meiner Mutter sagte, wusste sie sofort worum es geht. Mein Vater war ahnungslos. Da erzählte meine Mutter ihm von ihrem eigenen Missbrauch durch den Vater, meinem Opa. Sie brachen daraufhin den Kontakt zu meinem Opa ab. Ich dachte, jetzt wäre alles vorbei. Als dann mein Vater kurze Zeit später anfing, dachte ich, dass sei nicht möglich. Ob alle so sind? Der Missbrauch fand das erste Mal auf dem Sofa statt, als niemand außer uns zu Hause war. Später dann auch im Kinderzimmer, im Auto an Waldgebieten und im alten Kinderzimmer bei seinen Eltern. Ich schloss meistens meine Augen, weil ich es nicht ertrug, oder versuchte mich weit weg zu denken.

Ich schrieb meiner Mutter Briefe darüber, was mein Vater mit mir macht und dass ich es nicht mehr aushalte. Ihre Reaktion war leider nicht die, die ich erwartet hatte: Sie glaubte mir nicht. In Gesprächen versuchte sie mir zu vermitteln, dass ich mir das einbilde, wegen des Missbrauchs vom Opa. Ich habe mich dann in der Schule anvertraut. Ich war immer wieder in Gedanken, konnte mich nicht auf den Unterricht konzentrieren und starrte aus dem Fenster. Meine Lehrerin sprach mich an und ich erzählte ihr von dem Missbrauch durch meinen Opa. Ich bekam einen Rückzugsort. Ich konnte mich in einem Raum hinlegen und Ruhe tanken. Während einer Unterrichtsstunde, in der ich mal wieder nur aus dem Fenster starrte, schob sie mir außerdem einen Zettel zu. Darauf stand: "Es ist absolut Ok, dass es dir gerade nicht gut geht und du nichts machen kannst." Durch diesen kleinen Zettel spürte ich keinen Leistungsdruck und konnte die Schule als einen Ort erleben, an dem ich nicht das gleiche leisten musste wie zuhause - nämlich stark zu sein. Das gab mir Kraft zu Hause durchzuhalten. Dafür war ich dankbar in dieser Zeit.

Eine weitere Lehrerin sprach mich nach dem Sexualkundeunterricht in der siebenten Klasse an. Das Thema war für mich schwer auszuhalten, also verließ ich den Unterricht. Meine Lehrerin sprach mich darauf an und ich erzählte ihr, was los war. Sie nahm Kontakt zu einer Fachberatungsstelle auf. Dort sprach ich von dem „bösen Wolf“, der um das Haus schleicht. Ich meinte damit meinen Vater, nicht meinen Opa, aber ich traute mich nicht von ihm zu erzählen. Es kam zu einer Anzeige, ohne dass ich darüber informiert wurde. Ich verweigerte die Aussage gegen meinen Opa, auch weil meine Schwester kein Strafverfahren wollte, so dass dieses schließlich eingestellt wurde.

Meine Lehrerin sprach mich an und ich erzählte ihr von dem Missbrauch durch meinen Opa. Ich bekam einen Rückzugsort.

Der Missbrauch ging danach noch einige Jahre weiter und ich suchte weiterhin vergeblich Hilfe bei meiner Mutter. Dann eines Tages während einer der vielen Diskussionen mit meiner Mutter, kam mein Vater dazu und sagte plötzlich: Johanna lügt nicht, es stimmt. Danach war Stille. Ich hob die Hände vors Gesicht und rannte in den Keller. Oben wurde weiter diskutiert, bis meine Mutter ihn schließlich aus der Wohnung warf.

Das Thema wurde dann schnell wieder unter den Teppich gekehrt. Es begann die Zeit, in der ich eigentlich nicht mehr Teil der Familie war. Es kam mir vor, als sei ich die Täterin, da nun ja alles anders war. So anders, dass ich mich manchmal gefragt hatte, ob es nicht einfach besser wäre, wenn ich verschwinde und er wieder bei ihnen wohnt. Denn irgendwie schien das jeder zu wollen außer mir.

Durch den langen Missbrauch, hatte ich eine posttraumatische Belastungsstörung. Ich empfinde mich auch heute noch traumatisiert oder einfach anders. Ich habe aber auch das Gefühl, ich bin eher mehr als weniger, nach dem ganzen was mir passiert ist. Eher stärker als schwächer. Eher Expertin für diese Themen, als eine Unwissende.

Ich arbeite heute selbst in einer pädagogischen Einrichtung und engagiere mich für den Kinderschutz. In einem Projekt spreche ich mit den Kindern ab vier Jahren zum Beispiel über gute und schlechte Geheimnisse, denn Kinderschutz fängt mit der präventiven Arbeit an und beginnt schon bei den Kleinsten.