An die sexuellen Übergriffe meines Vaters erinnere ich mich etwa ab der Einschulung, sie endeten mit der Pubertät. Als Pfarrer stand mein Vater dem Kindergarten vor, er war mein Religionslehrer in der Grundschule, ich besuchte sonntags seinen Kindergottesdienst und wurde von ihm konfirmiert.

Meine Mutter arbeitete im pädagogischen Bereich. Als ich, selbst noch minderjährig, in eine Punk-WG zog, brachte das Jugendamt zwei ältere Mädchen als Pflegekinder bei meinen Eltern unter. Der zweite Täter war Küster, mein Vater war sein Vorgesetzter. Er hat mich sexuell bedrängt und vergewaltigt, als ich zehn war.

Zeitlich zuzuordnende Erinnerungen setzen Anfang der 1970er-Jahre ein. Oft kam er in der Nacht oder wenn ich krank oder in den Ferien zu Hause und meine Mutter zur Arbeit war. Ich wurde von meinem Vater am ganzen Körper stimuliert, mit den Fingern an allen Öffnungen penetriert, ich reagierte mit Erstarrung. Er masturbierte an mir, nötigte mich, dass ich ihn manuell befriedige, dies steigerte sich bis zur oralen Vergewaltigung. Der Missbrauch war eingebettet in unzählige „Aufklärungsgespräche“, und es gab „Aufklärungsliteratur“ wie „Zeig Mal“ im Stil der 1970er-Jahre: Kinder haben ein Recht auf Sexualität, die Mutter ist verklemmt, du bist so lieb zu mir, die Leute verstehen das nicht, sind nicht „so aufgeklärt“. Er galt als angesehener Experte der evangelischen Kirche im Bereich der Sexualpädagogik. Zu Hause erinnere ich eine hoch sexualisierte Atmosphäre. Er war leicht zu kränken, launisch, strafte mit Liebesentzug und Schweigen, aber auch mit Schlägen, auch mit heruntergezogener Hose auf den Hintern. Mein Vater flirtete mit unseren Freundinnen. Er war distanzlos zu Frauen, hatte Charisma und viele Jahre immer wieder heimlich Geliebte, er band mich ebenso in seine Affären gegen meine Mutter ein.

In der vierten Klasse bedrängte mich auch der Küster unserer Gemeinde, dessen Vorgesetzter mein Vater war. Er drückte mich erigiert gegen die Kirchenmauer und schob seine Zunge in meinen Mund. Ich erzählte meiner Mutter, dann beiden Eltern davon, auch meine Schwester berichtete eine solche Szene. Die Gemeindeschwester sprach mit dem Küster. Das war alles. Wenig später vergewaltigte mich der alte Mann und erpresste mich, mein Kaninchen zu töten, wenn ich etwas erzähle. Ich blieb allein und ungeschützt. Er hat sich später umgebracht.

Der sexuelle Missbrauch endete für mich verstörend mit dem Beginn meiner Pubertät. Ich war zwölf, eher 13 Jahre, mein Vater entzog mir schlagartig und für mich unerklärlich seine Zuwendung. Bis ich mich aus der schädigenden Verstrickung mit ihm lösen konnte, brauchte ich zwei weitere Jahrzehnte. Manche der Missbrauchsszenen erschienen mir normal, an viele andere traumatische Ereignisse hatte ich jede Erinnerung verloren. Über den Beginn des Erinnerungsprozesses veröffentlichte ich 1994 ein Taschenbuch: Jule Wolf: Tochterfrau im Fischer Verlag. Die beste Freundin meiner Schwester hat mir später erzählt, dass sie von meiner Schwester wusste, dass mein Vater mit dem Finger in meine Scheide eindringt und mich befummelt. Sie wussten beide nicht, wie sie mir helfen können. Kurz nach meinem Abitur beendete meine psychisch kranke Schwester ihr eigenes Leben mit Gewalt.

Im Jahr 1999 informierten ein befreundeter Pfarrer und ich über den Dienstweg die ev. Kirche von den Taten meines pensionierten Vaters, um nebenberufliche Kontakte zu Kindern zu verhindern. Es gab keine Reaktion. Null. Keine Nachfrage. Nichts. Der Brief aber, so hieß es damals auf Nachfrage, war angekommen. Zehn Jahre später sagte mir eine Kirchenjuristin, der Dekan habe sich als Vorgesetzter nicht vorstellen können, dass mein Vater ein Täter ist, er sei zudem alt und nebenberufliche Tätigkeiten seien nicht zu verhindern.

Es gab keine Reaktion. Null. Keine Nachfrage. Nichts.

Als 2010 die sexuelle Gewalt gegen Kinder in Kirchen, Heimen und Internaten öffentlicher wurde, folgte ich einem Aufruf der Landeskirche und informierte sie mündlich und schriftlich über die sexuellen Übergriffe ihrer Bediensteten: den Küster und Pfarrer. Die erste Reaktion der Missbrauchsbeauftragten am Telefon war die Bitte um Verzeihung, dies hat mich berührt, die Tränen liefen. Unser Brief von 1999 war verschwunden bzw. wie es das Personalreferat beschrieb, hatte „keinen Eingang in die Personalakte gefunden“. Die Kirche wollte mit mir „Erfolgsaussichten, ‚Gefährdung‘ (Ihre und die Ihrer Familie), mögliche Öffentlichkeitswirkung“ einschätzen. Ich hatte keinen Beratungsbedarf und forderte die Kirche auf, ohne Namensnennung in ehemaligen Schulen und Gemeinden weitere Betroffene zu suchen, das Verschwinden des Briefes zu klären, die Nebentätigkeit mit Kindern zu untersagen, den unterlassenen Schutz vor sexueller Gewalt seitens des Küsters zu ermitteln und die Expertise einer in der Täterarbeit erfahrenen Fachkraft zu nutzen und mandatierte eine Opferanwältin.

Die Kirche eröffnete schließlich ein Disziplinarverfahren, benannte eine junge Anwältin, die gerade ihre erste Praxis aufbaute, als Ermittlerin. Diese konzentrierte ihre Aktivitäten nach meiner Wahrnehmung allein auf meinen „Fall“. Das sogenannte Ermittlungsverfahren war seelisch zermürbend und zog sich trotz meines Drängens, zum Ende zu kommen, mehr als zwei Jahre hin, in dieser Zeit wurden meines Wissens nur meine Eltern, Geschwister und die Freundin der toten Schwester gehört. Ich verschriftlichte auf Rat meiner Anwältin alle Szenen genau, an die ich mich erinnere und versuchte sie zeitlich einzuordnen. Ich wurde als Zeugin befragt, in einem dunklen engen Gemeinderaum der Landeskirche musste ich, nachdem nebenan die Morgenchoräle der Kirchenbediensteten endlich verklangen, detailliert einzelne Übergriffe schildern und mich gegenüber dem Verteidiger meines Vaters rechtfertigen. Eine Nebenklage kennt das Kirchenrecht (noch?) nicht. Meine Anwältin sei nur „zum Händchenhalten“ da, belehrte mich der Anwalt meines Vaters, als ich ihm die sexuellen Übergriffe schildern sollte.

Als Hinweisgeberin und Betroffene erfuhr ich nicht, welche Hinweise aufgegriffen, welche Ermittlungen angestellt und welche Erkenntnisse gewonnen worden sind. Auf die Bitte der Kirche entband ich meine Analytikerin von ihrer Schweigepflicht. Sie beschrieb den Verlauf der zehnjährigen Therapie, ordnete das vom leugnenden Täter behauptete „False Memory Syndrom“ als unwahrscheinlich ein und ging auf die Folgen des sexuellen Missbrauchs ein. Dennoch teilte mir die Kirche, offenbar auf Wunsch des Täters, nach inzwischen mehr als zwei Jahren „Ermittlung“ mit, nicht etwa der Täter, sondern ich solle mich zusätzlich noch einer psychiatrischen Glaubhaftigkeitsbegutachtung unterziehen, was erneut dauern werde. Meine Ablehnung führte umgehend und ohne weitere Begründung zu einer Einstellung des Ermittlungsverfahrens, zu einem Hauptverfahren kam es nie. Ich suchte später noch das Gespräch mit dem Kirchenpräsidenten, dieser ließ sich auf meine Perspektive als Betroffene ein und sprach mir sein Vertrauen aus und brachte dies zudem im Gespräch mit meinen Eltern zum Ausdruck. Auf seine Anregung hin wurden mir 5.000 Euro Zuschuss zur Therapie gezahlt, der nachgewiesene Selbstkostenanteil war allerdings fünffach höher.

Das mehrjährige Verfahren hat meine Person und Glaubhaftigkeit massiv infrage gestellt, hat traumatische Erinnerungen und Symptome aufleben lassen und mich und mein Kind über Jahre schwer belastet. Ich erlebte den von Juristen vollständig dominierten Verfahrensablauf als täterzentriert und den Ausgang als großes Unrecht. Es ging mir nie um Geld. Doch meine durch Aufruf der Kirche erzeugte Erwartung, durch die Meldung des sexuellen Missbrauchs zur Aufarbeitung und Prävention beizutragen, wurde bitter enttäuscht.

Es ist keine gute Idee, die Aufklärung von Hinweisen ausgerechnet Institutionen zu überlassen, in denen ein Täter beschäftigt ist. Wir brauchen unabhängige Ermittlungen, die forensisches, kriminologisches und psychologisches Fachwissen vereinen und proaktiv an der Abklärung von Hinweisen und der Anerkennung von schwerem Leid interessiert sind.