Es geht um mich, geboren in eine schutzlose Familie mit drei Geschwistern in den 1970er-Jahren. Ich habe mir diesen Satz sorgsam ausgewählt, denn das bin ich.

Das Thema Sexualität war eigentlich schon von Anfang an ein Thema, da meine Mutter sexsüchtig und Borderlinerin war. Sie war kalt, lieblos und sehr selbstbezogen. Ich möchte darauf hinaus, was es bedeutet, wenn ein Kind wirklich überhaupt keinen Schutz erfährt und wie sich das während des sexuellen Missbrauchs auswirkt. Ich war schon immer das liebe süße Mädchen, das jeder knuddeln und liebhaben wollte. Was nicht immer angenehm war. Außerdem hat meine Mutter dafür gesorgt, dass ich mich benehme, indem sie mich unterdrückte oder mir mit Schlägen drohte.

In meinem Fall war der Täter mein Stiefvater und eventuell noch andere Personen, was mir lange Zeit nicht bewusst war. Meine Mutter heiratete ihn, als ich sechs Jahre alt war. Er war ein sehr gewalttätiger Mann. Vieles von dem, was ich dort erlebt habe, konnte ich lange Zeit gut in einer Kiste verstecken. Die prägendste Erinnerung war, als sie sich mal wieder schlugen und der Stiefvater in mein Zimmer kam, um mich zu beruhigen. Was suchte dann seine Hand unter meinem Schlafanzug und warum saß er breitbeinig hinter mir? Meine Mutter kam rein, sah es und fing an sich weiter mit ihm zu streiten, anstatt auf diese Situation einzugehen.

Es gab immer wieder Bruchstücke anderer Situationen, aber bis heute will ich da einfach nicht hinschauen. Wenn meine Mutter betrunken genug war, „durfte“ ich öfter beim Sex zugucken, was ja auch eine Form von sexuellem Missbrauch ist. In der zweiten Klasse konnte ich immer noch nicht meine Schuhe zubinden oder die Uhr lesen. Meine Kontakte in der Klasse waren zwei Mädchen, sonst isolierte ich mich. Ich habe viel Zeit allein draußen verbracht, da meine Mutter mich oft aus der Wohnung aussperrte. Im Sport wollte ich mich nie ausziehen, das ging bis zur zehnten Klasse. Keinem ist etwas aufgefallen oder man hat einfach weggesehen.

Als ich acht oder neun Jahre alt war, hat mein Stiefvater versucht, meine Mutter in der Badewanne zu ertränken. Sie konnte sich wehren und versuchte ihn mit einer Badezimmerwaage zu erschlagen. Sie hätte es fast geschafft, aber hörte auf, weil ich dann in der Tür stand und geschrien habe. Das war das erste Mal, dass das Jugendamt kam. Ich war zwei Tage im Kindernotdienst, und als meine Mutter aus der U-Haft zurückkam, wurde ich wieder zu ihr geschickt. Mein Stiefvater lag zu dieser Zeit im Koma und ich ging ins Krankenhaus um mich zu überzeugen, dass er mir nichts mehr tun kann.


Warum geht man nicht in die Klassen?

Meine Mutter hat den Missbrauch abgestritten, als ich sie mit 19 Jahren damit konfrontierte. Wir lebten eine Zeit lang im Frauenhaus und sie lernte einen neuen Mann kennen, der mich zwar nicht anfasste, aber ebenfalls gewalttätig war. Er versuchte eigentlich immer nett zu mir zu sein, aber leider bewegten wir uns im Kneipenmilieu. Das heißt mit elf oder zwölf Jahren verbrachte ich meine Zeit teilweise in einer Kneipe. Dort waren genug erwachsene Männer, die mich gerne mal anfassten oder sich auf mein „Aufblühen“ konzentrierten. Es war völlig normal, dass meine zwölfjährige Stiefschwester mit einem 35-Jährigen zusammen war. Heute ist das für mich absolut unverständlich, vor allem, wenn es die Eltern einfach so hinnehmen.

Mit Anfang 13 bin ich dann freiwillig in ein Heim gegangen, da ich es einfach nicht mehr ausgehalten habe. Gerade im Jugendalter und als junge Erwachsene war ich sehr destruktiv und habe mehrfach versucht mich umzubringen, konnte keine normalen Beziehungen führen. Ich fing an zu trinken, Drogen zu nehmen, schwänzte die Schule und hatte mehrere Aufenthalte in psychiatrischen Einrichtungen oder Krisendiensten. Da sich in der Zeit auch noch zwei meiner Brüder umbrachten, war es für mich eine Katastrophe. Irgendwann stand ich wirklich auf Messers Schneide und ich musste mich fragen, ob ich wirklich sterben wollte. Nein, das wollte ich nicht. Ich versuchte mir dann Hilfe zu holen. Ich habe in den letzten zwanzig Jahren mehrere ambulante Therapien gemacht und war in stationären Traumatherapien. Ohne diese ganze Hilfe wäre ich sicherlich vor die Hunde gegangen.

Ich konnte lange nicht arbeiten, da ich erst mal den Weg der Aufarbeitung gehen musste. Das ist sehr anstrengend und nimmt mir viel meiner Energie. Menschen lösen immer noch sehr viele Ängste in mir aus, sodass ich mich oft zusammenreißen muss. Wenn man in jedem Menschen einen potenziellen Täter sieht, egal ob Mann oder Frau, ist das sehr anstrengend, da der Kampf oder Fluchtmodus ständig aktiviert ist. Nachts komme ich kaum in den Tiefschlaf, ich rede, manchmal schreie ich oder schlage mich selbst. Natürlich ist es kein Vergleich mehr zu früher, wo ich eigentlich nur sterben wollte, aber jetzt lebe ich auch nicht richtig, sondern überlebe. Alles muss geplant sein und nichts dem Zufall überlassen. Wenn ich reisen will, ist alles hundertprozentig durchgeplant, damit auch nichts dazwischenkommt.

Ich habe fast alles aufgearbeitet, bis auf eines und das ist der Missbrauch. Ich habe es einmal versucht und zu diesem Zeitpunkt kamen wieder die Selbstmordgedanken. In der Therapie entschieden wir dann, das Thema erst mal sein zu lassen, da ich einfach noch nicht so weit bin. Ich ließ mich beraten wegen einer Opferentschädigung, gleichzeitig stellte ich einen Antrag beim Fonds für sexuellen Missbrauch, was eine Erleichterung für mich war, da man mir glaubte und er bewilligt wurde.

Ich hatte nicht einen einzigen Menschen, der mir in dieser Zeit geholfen hat, auch nicht die Jugendämter, denn es waren mehrere, die die Alarmzeichen hätten sehen müssen und ich glaube, darauf kommt es heute wie damals an. Lehrer und Ämter müssen besser geschult werden. Warum gibt es eigentlich kein Projekt, in dem therapierte Betroffene in die Schulen gehen, von sich erzählen, was sie sich gewünscht hätten und was die Alarmzeichen sind? Warum geht man nicht in die Klassen und vermittelt den Kindern, wie sie sich mitteilen können?

Das ist mein Bericht und ich hätte nicht gedacht, dass ich in der Lage bin, ihn so schonungslos zu schreiben.