Ich habe mich so bemüht, das Geschehene zu verdrängen. Ich stelle mir vor, wie es sich anfühlen könnte, die Erinnerungen im Kopf auszulöschen und endlich Frieden zu finden.

Ich wollte diese Geschichte nie schreiben und nun werde ich sie doch schreiben. In meiner Kindheit Ende der 1980er-Jahre überlebte ich vier Jahre Missbrauch durch meinen älteren Bruder. Der Missbrauch begann mit meinem elften Lebensjahr. Dies war ein schleichender Prozess. Zu Beginn waren es eher "Machtspielchen" seitens meines Bruders. Er drückte mich auf den Boden und hielt mir Mund und Nase zu, sodass ich keine Luft bekam, er schlug mich und machte mich mit Worten klein und kleiner. Im Laufe der Zeit wuchs die Macht meines Bruders gegenüber mir gleichermaßen, wie meine Angst vor ihm zunahm. Da begann er mit den sexuellen Handlungen. Als ich mit 15 Jahren endlich alt genug war, flüchtete ich mich zu Freunden und kam so oft es ging auch nachts nicht nach Hause. In der Schule erbrachte ich trotz aller Widrigkeiten immer relativ gute Leistungen, denn ich wusste, dass dies meine einzige Möglichkeit zur Unabhängigkeit war.

Mit zwölf Jahren wurde ich auf dem Weg ins Freibad von einem Mann vergewaltigt. Ich benutzte den Weg sehr oft, und ich glaube heute nach all den Jahren, dass es kein Zufall war und dass der Täter vielleicht gar kein Fremder war. Ich war neugierig, mutig, voller Leben und Selbstbewusstsein. Davon kommt im Bewusstsein nichts mehr an, als hätte die Zeit stillgestanden. Es war wie ein Tonband, das läuft und dann wird die Stopptaste gedrückt. Er drohte mit dem Messer am Hals, mich umzubringen. Viele hässliche Dinge passierten, ein paar kannte ich schon, andere waren neu. Irgendwann bin ich irgendwie nach Hause gekommen, ging schnell ins Bad. Kein Wasser der Welt konnte diesen Schmutz abwaschen. Und nein, ich war nicht aufreizend gekleidet, als ich zum Freibad wollte, ich trug Jeans, ein zwei Nummern zu großes T-Shirt und Turnschuhe. Die Wunden verheilten, die Narben blieben. Durch permanente Grenzüberschreitung verlor ich das Gefühl, dass mein Körper die Grenze zu meinem Selbst war. Das missbrauchte Mädchen – es verschwand einfach.

Durch das Schreiben kann ich das Kind von damals sehen.

Meinen Mann lernte ich im Studium kennen, das ich mir hart gegen den Willen meiner Eltern erkämpfen musste. Als ich mitten im Studium schwanger wurde, konnte ich nicht fassen, dass in meinem Körper Leben heranwachsen sollte. Dieses Gefühl des Glücks, das ich damals empfand und gleichermaßen die riesige Angst und Sorge, ob ich diesem kleinen zerbrechlichen Menschen gerecht werden könne, überfluteten mich förmlich. Meine Kinder und mein Mann bedeuten mir alles. Mit ihnen baute ich unser neues Leben auf. Ich hatte nun ein Kind und einen Mann zu versorgen und ich war dankbar, dass ich etwas hatte, um das ich mich voll und ganz sorgen musste. Ich wurde gebraucht! Das ist bis zum heutigen Tag so. Viele Jahre konnte ich nicht sehen, dass ich nur mit einer Teilidentität lebte, das misshandelte Kind war so weit von mir entfernt, dass man sich nicht einmal das Recht auf einen Schmerz zugestehen konnte. Bis zum heutigen Tag wird die Familienfassade der Herkunftsfamilie für Außenstehende aufrechterhalten.

Manchmal begegne ich Menschen, und denke mir, dass sie nichts vom Kämpfen und Überleben wissen, dass sie keine Ahnung haben von dem Glück, in einer sicheren und geschützten Umgebung aufwachsen zu dürfen. Der Verlust dieses Sicherheitsgefühls bedeutet für mich heute noch, ständig alles mit erhöhter Aufmerksamkeit wahrnehmen zu müssen, die Umgebung mit den Augen kontrollierend auf der Hut sein und die Sinne schärfen für alles um mich herum. Ich hätte mir nur einmal eine Mama gewünscht, die mich in ihren Armen wiegt und mir sagt, dass alles gut werden wird. Heute wenn ich meine Tochter tröstend im Arm wiege, wenn sie ein blutendes Knie hat und ihr sage, dass alles gut wird, dann wiege ich vielleicht auch einen kleinen übrigen Teil meiner Selbst.

Durch das Schreiben kann ich das Kind von damals sehen. Ich darf diesem nicht länger die Schuld geben, denn sie wurde tatsächlich benutzt, sie war einfach nur ein unschuldiges Mädchen. Lange Zeit konnte ich das nicht erkennen. Selbst jetzt fällt es mir schwer, da dadurch ein Stück Kontrolle verlorengeht. Solange man sich Vorwürfe machen kann, ist das auch auf gewisse Art eine Kontrolle. Und man wird durch die Familie in diese Rolle gedrängt, sich selbst die Schuld zu geben, damit die Scham darüber groß genug ist, seinen Mund zu halten und den Täter zu schützen.

Mir ist klar geworden, dass ich immer noch vor dem vergewaltigten, blutenden, misshandelten Mädchen fliehe und sie verachte. Ich verstoße sie und möchte sie nicht in mein Leben integrieren. Aber ich verstehe auch, dass sie wohl ein Teil von mir ist und ich beginnen muss sie anzunehmen – auch wenn ich sehr großen Respekt davor habe, was sie alles mitbringt.