Ich wurde 1959 in eine kinderreiche Familie geboren, wir waren zehn Geschwister. Meine Eltern waren beide berufstätig. Die frühe Kindheit war bis auf die Prügel eigentlich so weit okay. Bis zum elften Lebensjahr. Da fingen die sexuellen Übergriffe meines Vaters an.

Ich habe mit niemandem drüber gesprochen. Auch nicht über die Prügel. Beim Sport in der Schule wollte ich nicht, dass jemand meine blauen Flecken und Striemen sieht. Dann habe ich bewusst mein Sportzeug vergessen und bekam einen Eintrag. Die nächsten Prügel waren vorprogrammiert. Mein Vater war eigentlich ein sehr aggressiver Mann. Der hat auch meine Mutter geschlagen ohne Grund. Einmal holte mich mein Vater aus dem Bett ins Wohnzimmer. Er hat meine Hose runtergemacht und da sollte ich ihn das erste Mal anfassen. Im Nebenzimmer lag meine Mutter. Sie ist dann rausgekommen, aber er schnauzte sie an, dass sie abhauen soll. Ich habe mich nicht getraut, mit irgendjemandem drüber zu sprechen.

Später war ich war zwei-, dreimal bei einem Berater vom Jugendamt. Da habe ich das erste Mal davon erzählt, weil ich immer gedacht habe, na ja, das ist ein Amt, die helfen dir. Man hat mir nicht geglaubt. Ich denke, dass sich zu dem Zeitpunkt mein Leben verändert hat. Ich habe angefangen zu klauen, in der Schule vor allem, weil ich eine Möglichkeit finden wollte, aus dem Elternhaus zu verschwinden. Ich meine, die Prügel, die waren ununterbrochen, also die gab es immer und auch die Übergriffe. Ich habe mehrfach versucht, von zu Hause auszureißen. Da wurde ich dann von meinem Vater von der Polizeistelle wieder abgeholt. Irgendwann sagte meine Mutter: „Du gehst ins Heim.“ Ich habe die zwei Jahre Kinderheimzeit als Erleichterung empfunden. Aus der Zeit habe ich Disziplin mitgenommen, Sauberkeit. Da wurde jeden Tag geduscht und Zähne geputzt. Das kannte ich ja gar nicht.

Als ich wieder zu Hause war, dauerte es nicht lange, bis mein Vater dann richtig anfing. Da bin ich wieder von zu Hause ausgerissen. Ich bin getürmt, wurde aufgegriffen und kam das erste Mal in den Jugendwerkhof Rödern.

Nach genau zwei Stunden war ich wieder weg. Das war dann so ein Kreislauf: Abhauen, auf Achse, eingefangen, Jugendwerkhof.

Du willst aus dem Elternhaus weg wegen des sexuellen Missbrauchs, gehst in die Obhut des Jugendamts und dir passiert unter der Obhut des Jugendamts genau das Gleiche.

1975 kam ich das erste Mal in den Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau. Beim zweiten Mal in Torgau war alles strenger, alles schärfer, alles extremer, weil ich Wiederholungstäterin war. Ich war fünf Tage im Arrest in einer Zelle mit Holzpritsche, Hocker und einem Kübel. An meinem Geburtstag bekam ich nächtlichen Besuch vom Direktor. Ich habe mich dann einem Erzieher anvertraut und von der Vergewaltigung durch den Direktor erzählt. Da habe ich zwei Tage Arrestverlängerung gekriegt. Wegen Belügen. Von dem Moment an habe ich nur noch funktioniert. Das heißt, ich wurde Wochenbeste, ich war Brigadeleiter, wie das so schön hieß. Ich habe Belobigungen gekriegt. Ich war gebrochen, ganz logisch. Du willst aus dem Elternhaus weg wegen des sexuellen Missbrauchs, gehst in die Obhut des Jugendamts und dir passiert unter der Obhut des Jugendamts genau das Gleiche.

Was seltsam klingt, aber: Ich hatte jahrelang Schuldgefühle meinen Eltern gegenüber. Weil mein Vater immer sagte, er hätte so viel für mich bezahlt. Ich habe erst im Nachhinein erfahren, dass die nie einen Cent hergeben mussten. Ich habe immer gedacht, du hast was gutzumachen an deinen Eltern.

Über den Missbrauch haben wir nie gesprochen. Ich habe auch mit meinen Partnern nie drüber reden können. Also mein erster Ehemann wusste zumindest, dass ich im Heim und im Jugendwerkhof war. Zu DDR-Zeiten war man da schon abgestempelt. Über den Missbrauch habe ich das erste Mal gesprochen bei der Selbsthilfegruppe in Torgau. Vor zwei Jahren vielleicht. Es hat mir geholfen zu sprechen. Ich meine, wenn keiner drüber redet, passiert auch nichts, oder?