Die Geschichten auf diesem Portal enthalten Schilderungen, die verstörend wirken können. Einige Worte oder Beschreibungen können negative Erinnerungen und unangenehme Gefühle auslösen. Falls Sie das Bedürfnis haben, mit jemanden darüber zu sprechen, nutzen Sie bitte die Angebote zur Beratung & Hilfe.
Ich war etwa elf Jahre alt. Ein paar Jahre zuvor war ich bereits einer ähnlichen Situation ausgeliefert gewesen. Damals handelte es sich um einen Nachbarn von Bekannten, die wir regelmäßig besuchten. Als nun auch mein Großvater übergriffig wurde, hatte ich aufgrund der Vergangenheit schon sehr große Alarmglocken installiert.
Ich beschloss, mich meiner Schwester mitzuteilen und erzählte ihr beide Erlebnisse nach langer Überwindung in aufgeregtem Stottern. Als ich am Ende unseren Großvater erwähnte, schreckte sie auf und war fest entschlossen, das unseren Eltern zu erzählen. Nach wenigen Minuten kam meine Mutter, nahm mich in den Arm und sagte: „Ich wusste, dass da irgendwas nicht stimmt.“ Schließlich hatte ich ganz plötzlich verweigert, zu den Bekannten mitzukommen. Sie fragte, was geschehen sei. Das konnte ich damals aber nicht aussprechen. Nachdem die Szene des Tröstens beendet war, war ich wieder mit meiner Schwester allein und wunderte mich, dass meine Mutter meinen Großvater nicht erwähnt hatte. Meine Schwester sagte mir, sie hätte nichts von ihm gesagt, nur von dem anderen. Ich verstand nicht, warum. Sie ging erneut zu unseren Eltern und diesmal kam mein Vater. Er sagte, wir sollten uns gut überlegen, was wir erzählen, unsere Mutter sei am Boden zerstört, schließlich sei er ihr Vater.
Irgendwann teilte meine Schwester mir mit, dass auch sie Opfer meines Großvaters war. Ich glaube, es wurde ihr in dem Moment, als ich es aussprach, überhaupt erst bewusst. Dennoch erzählte sie meinen Eltern an diesem Abend und auch in der Zukunft niemals von sich, sondern ausschließlich von meinen Erzählungen. Sie hatte Angst. Angst vor der Reaktion meiner Eltern, und ich war ein guter Sündenbock, falls es schiefgeht. Sie wollte nicht das schwarze Schaf sein, das den Familienfrieden bricht. Und sie hatte Recht. Am nächsten Tag sprach mein Vater mich erneut an und sagte, er könne nichts tun. Den Kerl höchstens verprügeln, aber was soll das bringen? Und wegen meines Großvaters solle ich doch noch einmal darüber nachdenken, ob es nicht doch nur eine versehentliche Berührung beim Spielen zum Beispiel war. Meine Mutter ließ sich gefühlt tagelang nicht blicken. Danach schwiegen wir es tot. Nur meine Schwester und ich redeten darüber. An irgendeinem Zeitpunkt, ich war sicher schon über 20 Jahre alt, offenbarte sich meine Cousine durch einen Zufall im Gespräch. Sie weinte sehr und beteuerte immer wieder, dass niemand sie verstehen könne, da niemand wisse, was ihr widerfahren sei. Und da sprach ich sie darauf an. Sie hat aus denselben Gründen nicht geredet wie meine Schwester. Angst davor, die Einzige in der Familie zu sein, der das passiert ist. Angst, ausgestoßen zu werden und unglaubwürdig zu sein.
Angst, ausgestoßen zu werden und unglaubwürdig zu sein.
Fast 15 Jahre nach meinem Erlebnis entfesselte sich die Wut auf meine Familie. Ich war weit weggezogen, hatte gerade eine Angststörung entwickelt und war fest entschlossen, meine Familie mit allem zu konfrontieren. Bei meiner Mutter angekommen, prasselten die Vorwürfe nur so aus mir heraus. Bei meinem Großvater angelangt, der bereits ein paar Jahre tot war, brach sie in Tränen aus und schwor, dem Ganzen auf den Grund zu gehen und weitere Familienmitglieder zu befragen. Meine Aussage reichte scheinbar immer noch nicht, um dem wirklich Glauben zu schenken. Ihre älteste Schwester erzählte ihr dann, selbst Opfer gewesen zu sein.
Ein Schwerpunkt, der der Weiterentwicklung bedarf, ist die mangelnde Aufklärung in der Gesellschaft. Auch Bildungseinrichtungen wie Kindergarten oder Schule waren nicht involviert. Angebote zur Unterstützung, um mit Schuld und Scham umzugehen, fehlten. Sicherlich geht es hier um einen Fall von vor 25 Jahren, in einem Dorf im tiefsten Osten kurz nach der Wende. Aber auch heute ist das Thema noch sehr tabuisiert. Kinder und Jugendliche müssen gehört und ernst genommen werden. Mut zur Enttabuisierung nimmt Tätern die Macht.