Ich wurde von meinem Vater sexuell missbraucht. Seit dem fünften Lebensjahr kann ich mich daran erinnern, und es dauerte an bis zu dem Tag, als ich mich das erste Mal wehrte. Da war ich zwölf Jahre alt.

Der Vater war Installateur und arbeitete meistens auf Baustellen. Er war im nüchternen Zustand ein sehr schweigsamer Mensch, der aber auch humorvoll sein konnte. Meine Mutter arbeitete als Hauptbuchhalterin. Ihre Karriere war ihr sehr wichtig. Schon früher sagte sie zu uns: „Wenn es damals schon die Pille gegeben hätte, dann gäbe es euch nicht.“ Die Mutter wusste von seinen Taten. Ich öffnete ihr die Augen und das nicht nur einmal.

Oft schlief ich auf der Couch in der Wohnstube bei meiner Mutter, die auf einem anderen Sofa schlief. Sie wollte es so, da sie Angst hatte, wenn der Vater nachts betrunken nach Hause kam. Gleichzeitig flehte mich meine Schwester an, bei ihr in unserem Kinderzimmer zu schlafen. Da stand ich zwischen Baum und Borke, denn ich konnte nicht beide gleichzeitig beschützen. Hinzu kamen bei mir Schuldgefühle, da ich wusste, was im Kinderzimmer abläuft.

Als ich älter war, kroch der Vater zu mir ins Bett. Am nächsten Morgen wusch ich mich ganz schnell und machte mich im Flur fertig. Der Vater saß in der Küche trank seinen Kaffee und rauchte, so wie immer. Ohne Frühstück und ohne ein Wort verließ ich die Wohnung. Ich versuchte die Gefühle wegzudrücken, wie ich es immer tat, wenn etwas sehr schmerzlich war. Doch der Schmerz war zu tief, nicht nur in meinem Bauch sondern am ganzen Körper.

Immer hoffte ich, dass sich irgendetwas für uns ändern würde. Die Mutter weinte sich oft bei mir aus und entschuldigte sich deswegen bei mir. Oft sagte sie zu mir: "Dein Vater war früher nicht so, dass musst du mir glauben." Meiner Mutter war es wichtig, dass nach schlimmen Nächten mit seinen Gewaltausbrüchen alles wieder "normal" abläuft, damit keiner was bemerkt und Fragen stellt. Ich fühlte mich jedes Mal wie betäubt und hoffte, mich würde mal jemand fragen, wie es mir geht. In der Schule war ich anwesend, aber in meinem Kopf lief immer wieder der gleiche Film ab. Es gelang mir nicht, dem Unterricht zu folgen, so sehr ich mich auch bemühte.

Bei unserer Klassenlehrerin spürte ich, dass ich ihr nicht egal bin.

Ich beschloss mit meiner Schwester zur Polizei zu gehen. Ich merkte mir die Öffnungszeiten und sprach mit der Schwester darüber. Das war ein Fehler, denn sie verriet mein Vorhaben bei der Mutter, die mir drohte, dass sie den Vater einsperrten, wenn ich dort hingehe und wir dann ins Heim müssten.

Mit acht Jahren durfte ich allein zu Hause sein. Spielen mit anderen Kindern war mir nicht wichtig, denn ich sehnte mich nach Ruhe und nach meinem Bett. Endlich allein in Ruhe schlafen. Oft war ich so kaputt, dass ich mich gleich nach der Schule ins Bett legte und fest schlief. Besonders in der warmen Jahreszeit genoss ich meinen Weg zur Schule. Nur langsam beruhigte ich mich, denn mein ganzer Körper war angespannt. Bei jedem Schritt hatte ich Angst ins Wanken zu geraten und umzufallen. Manchmal kam es mir vor, als wankte die Erde und nicht ich. Dann versuchte ich mich abzulenken und beobachtete die Sonnenstrahlen in den Lindenbäumen. Der Wind spielte mit den Blättern und ich hatte vergessen, was war. Was letzte Nacht war. Im Verdrängen war ich spitze. Ich träumte von einer besseren Welt, dass ich eine gute Schülerin bin und alle nett zu mir sind. Wenn ich auf dem Schulhof ankäme, begrüßen mich alle und stellen mir Fragen: Wie geht es dir? Was hast du gestern so gemacht? Aber es interessierte niemanden.

Einmal hatte meine Schwester Blut in der Hose, da war sie acht oder neun Jahre alt. Die Hortnerin machte Meldung. Die Mutter und die Schwester mussten zur Kinderärztin. Nach einer Untersuchung sagte die Ärztin zu meiner Schwester, dass sie dafür sorgen werde, dass es aufhört und dass sie keine Angst mehr haben brauche. Der Vater musste zweimal zur Anhörung in die Arztbaracke. Ich habe bis heute keine Ahnung, was dort ablief. Darüber wurde geschwiegen.

Es gab vier Frauen in meiner Kindheit, die sie positiv prägten, und diese Frauen werde ich nie vergessen: meine Kindergärtnerin, eine Nachbarin, meine Ersatz-Omi und meine letzte Klassenlehrerin. Meine Kindergärtnerin liebte ich sehr. Manchmal im Sommer nahm sie mich kurz mit zu sich, wenn sie Feierabend hatte. Danach brachte sie mich nach Hause, denn ich war meistens die Letzte. Eines Tages äußerte ich den Wunsch, dass ich bei ihr bleiben möchte und sie meine Mama sein solle. An diesem Tag sprach sie mit meinem Vater. Als sie weg war, brüllte er mich an und verprügelte mich. Später hatte ich eine liebe Klassenlehrerin, das war mein Glück. Zweimal sprach sie mich nach dem Unterricht an und fragte mich, was mit mir los sei. Beim zweiten Mal wollte ich sprechen, aber wir wurden unterbrochen. Da verließ mich der Mut und ich nahm mir vor, das nächste Mal mit ihr zu sprechen. Ein nächstes Mal gab es nicht. Die Lehrerin gründete Lernbrigaden und ich erhielt Nachhilfe von einem Schüler aus meiner Klasse. Mit viel Fleiß schaffte ich den Abschluss mit gut. Bei unserer Klassenlehrerin spürte ich, dass ich ihr nicht egal bin.

Heute unterstützen mich meine Hausärztin, meine Therapeutin und meine Osteopathin. Diese drei Frauen sind für mich wie ein Anker in stürmischer See. Zu allen Terminen fährt mich seit Jahren mein Mann. Er ist und bleibt mein Fels in der Brandung. Wir sind seit 20 Jahren verheiratet. Unser Sohn ist für uns das größte Geschenk und Wunder. Ohne die Unterstützung von außen, die ich mir immer wieder gesucht habe, wäre mein Traum von einer kleinen Familie zerplatzt.

Was hätte ich damals gebraucht? Einen Menschen, der mir sagt: Du bist wichtig und wertvoll für mich. Ein Mensch, der nicht aufhört zu fragen und der mich richtig ansieht. Ein Mensch, der ehrlich ist und freundlich und der zu mir hält, egal was kommt.