Ich wurde in den 1980er-Jahren vom Freund meiner Mutter missbraucht und vergewaltigt. Der Missbrauch fing schleichend an. Erst wurde ich mit Schuhanzieher, Stock, Gürtel, Kochlöffel oder der flachen Hand geschlagen, geschubst oder geohrfeigt. Dann immer mehr beäugt und an verschiedenen Körperstellen angefasst. Ich habe mich nie getraut, über das Anfassen mit jemandem zu reden, ich hatte zu viel Angst. Mir wurde gesagt, ich käme ins Kinderheim, würde meinen Bruder niemals wiedersehen und auch nicht Oma und Opa. Wenn ich jemandem von diesem Geheimnis erzählen würde, erginge es mir schlecht. Er würde mich totschlagen.

Als ich 13 Jahre alt war, kam er regelmäßig nachts zu mir ins Bett und nahm mich mit in seinen Gebrauchtwagenladen, wo er mich missbrauchte. Als ich versuchte, dies meiner Mutter zu erzählen, rief sie ihn zu sich. Wir sprachen über meine Anschuldigung, die er abstritt. Wir gingen dann als Familie essen, und meine Mutter bekam später einen Rotfuchsmantel geschenkt. Irgendwann fühlte ich mich nicht mehr, meinen Körper auch nicht. Ich versuchte zu funktionieren und älter zu werden, um da rauszukommen. Als ich 17 Jahre alt war, gingen mein Bruder und ich in die nächstgrößere Stadt zum Jugendamt, weil ich dachte, die würden uns helfen. Dort meinte man, ich wäre sowieso bald 18 und für meinen Bruder sollten wir uns ans zuständige Amt in unserem Wohnort wenden. Ich sagte, dass wir geschlagen werden und es uns da nicht gut geht. Keine Reaktion. Zum Jugendamt zu gehen, hatte uns viel Überwindung gekostet, weil wir große Angst hatten, entdeckt zu werden.

Zum Jugendamt zu gehen, hatte uns viel Überwindung gekostet.

Mit 20 Jahren bin ich raus aus der Familie, bekam Kinder und litt sehr unter den Folgen des Missbrauchs. Ich stürzte finanziell ab, fiel ins Krankengeld, lebte am Existenzminimum. Auch an Selbstmord dachte ich, aber die Verantwortung für meine Kinder war für mich das Wichtigste im Leben. Als ich schließlich eine Anzeige stellte, hörte ich vom Opferentschädigungsgesetz (OEG). Die Oberkommissarin hatte leider keine Anträge mehr, und so musste ich beim Versorgungsamt anrufen. Am Telefon fragte man mich, warum ich den Antrag brauche, und verband mich weiter. Ich war geschockt, es war mir sehr unangenehm, und ich schämte mich. Ich dachte, vielleicht sollte ich das doch nicht machen.

Nach sechs Monaten kam der Bescheid, eine Ablehnung. Ich nahm eine Anwältin und wartete. Zwischendurch beantragte ich eine Haushaltshilfe, Berufsschadensausgleich und eine Ausgleichsrente. Ich erhielt eine Ablehnung mit dem Vermerk, die Kinder wären alt genug, Haushaltssachen zu übernehmen. Also erneut Widerspruch einlegen, neue Atteste einreichen, Zeugen benennen. Mehrere Verwandte machten Angaben, so erfuhr ich nebenbei, dass sie es damals gewusst oder geahnt hatten. Weitere Monate gingen ins Land, Briefe hin und her. Ich musste beweisen, dass ich missbraucht wurde, mir wurde nicht geglaubt. Zwischendurch bat ich meine Anwältin, mir nichts mehr zu schicken, und war oft kurz davor aufzugeben. Später habe ich die Akte eingesehen. Dort stand bereits damals der Vermerk einer Ärztin des Versorgungsamtes: Wenn ich berufsunfähig werden würde, wäre dies eine Folge des Missbrauchs.

Schließlich bekam ich einen Abhilfebescheid, in dem stand, dass ich einen Grad der Schädigungsfolgen (GdS) von 30 habe und mir die somatoforme Störung, depressive Störung und eine Posttraumatische Belastungsstörung anerkannt werden aufgrund von Gewalt und sexuellem Missbrauch. Ich bekam die Nachzahlung und eine laufende Zahlung des GdS von 30 in Höhe von damals 127 Euro monatlich. Ich legte Widerspruch gegen den Bescheid ein und musste erneut zum Gutachten, mein drittes. Diesmal fühlte ich mich das erste Mal gesehen, wobei ich mich immer noch nicht traute, alles zu sagen. Es war mir einfach zu peinlich und unangenehm. Das Gutachten aber war gut und sagte aus, dass mir ein GdS von 50 zustehen würde und später ein GdS von 70. Nachdem ich noch zwei Mal Angebote vom Amt mit einem GdS von 50 abgelehnt hatte, einigten wir uns weitgehend auf die Empfehlung des Gutachtens. Allerdings soll dies später wieder geprüft werden, was mir Unbehagen verursacht. Ich habe das Gefühl, es wird mir keine Zeit gelassen, zur Ruhe zu kommen nach fast zehn Jahren Kampf um „Entschädigung“ und um Anerkennung der Folgen.

Bis heute habe ich Erinnerungsschübe, dissoziative Störungen, Flashbacks und starke Schmerzen. Trotzdem wünsche ich mir manchmal etwas Normalität: Arbeiten gehen zu können, gesund zu sein, Freunde zu treffen, ohne das Gefühl zu haben, ich kann es nicht, ich schaffe es nicht. Wenn ein guter Tag ist, war ich mit meinem Hund laufen, habe gebacken oder schreibe etwas. Aber die Tage sind selten. Oft bin ich einfach nur froh, den Alltag hinzubekommen, etwas Warmes für die Kinder kochen zu können und zu sehen, dass sie ohne Beeinträchtigungen aufwachsen und leben, ohne Angst und Schmerzen. Das erfüllt mich mit großer Erleichterung und auch etwas Glück.