Meine Mutter musste mit 11 Jahren aus Ostpreußen fliehen und hat ihre Chancen im Leben nur durch die Versorgung durch eine Ehe gesehen. Wir wohnten außerhalb eines Dorfes in einem recht verfallenen Haus, weitab von wirksamer sozialer Kontrolle.

Der Missbrauch begann in meinem neunten Lebensjahr auf dem Dachboden, zuerst mit oraler Vergewaltigung, dann mit vaginaler. Ich habe vor allem am Anfang Todesangst gehabt, weil ich zu ersticken drohte. Ich war lange Zeit ausgesprochen massivem Druck ausgesetzt, weil mein Stiefvater alle Mittel anwandte, um mich zum Schweigen zu bringen. Vor allem gab er mir die Schuld und betrachtete mich als vollwertige Sexualpartnerin, die die Verantwortung für das Geschehen zu tragen hatte. Alles, was er sagte, war für mich vollkommen unverständlich und hat sich für mich vollkommen falsch angefühlt. Ich habe mich im Laufe der Zeit selbst falsch gefühlt, weil er behauptet hat, das würden alle Väter machen, was ich mir überhaupt nicht vorstellen konnte. Es hat mich in schreckliche Gewissensnöte gebracht. Ich hatte es ja nicht gleich gesagt, weil ich gar nicht verstand, was da geschah, und jetzt war es zu spät, dachte ich. Das hielt ich für den Beweis meiner Schuld. Ich litt bei jedem Vorgang an entsetzlichen Schmerzen und tiefem Kummer. Es war der Wegfall aller Kinderhaftigkeit. Ich habe nicht mehr gespielt oder gelacht. Ich fing an viel zu weinen, vor allem in der Öffentlichkeit, was mir Hohn und Spott eintrug und mich immer mehr zum Außenseiter machte. Ich habe alles versucht, mich zu wehren. Leider ist durch die perfide Strategie meines Stiefvaters alles misslungen.

Als ich mit 11 Jahren nach einem halben Jahr Überlegenszeit meiner Mutter bei einem Urlaub berichtete, was geschah, reagierte sie zuerst mit Eifersucht. Ich wusste noch am selben Abend, dass ich verloren hatte. Dann wurde sie sehr krank. Sie kam mir meist vor wie eine Wahnsinnige. Ihr Verhalten war für mich tief verstörend und ich war verzweifelt über die Schuld, ihr das angetan zu haben. Das Schreckliche war, dass mein Stiefvater danach überhaupt keine Rücksicht mehr nahm, da er es nicht mehr geheim halten musste. Meine Mutter war in ihren wahnhaften Zuständen so verdreht, dass sie mich sogar zwang, zu ihm zu gehen und mich mit Schlägen und Essensentzug bestrafte, wenn ich mich weigerte. Das waren die zwei Jahre, in denen ich jeden Tag und oft auch mehrfach am Tag vergewaltigt wurde.

In ihren hellen Momenten wollte meine Mutter sich scheiden lassen. Ich erinnere mich an einen Abend, an dem ich wieder Hoffnung schöpfte, da sie sich sehr stritten und sie mit Scheidung drohte. Am Morgen saß sie grün- und blaugeschlagen da. Sie fing an zu trinken, wurde medikamentenabhängig und gab auch mir Tabletten, damit ich ein schönes Gesicht machte.

In dieser Familie wird niemals jemand etwas für mich tun.

Schließlich kam es zur Schwangerschaft. Ich hatte mich morgens in der Schule übergeben und wurde mit dem Krankenwagen nach Hause gebracht. Wir fuhren zu einem Arzt, der die Schwangerschaft feststellte. Meine Mutter und ihr Mann beschlossen, dass ich abtreiben sollte – zu Hause und mit einer Methode, die er angeblich im Krieg angewandt hatte. Damals war ich dreizehn Jahre alt. Was mit dem Kind passiert ist, weiß ich nicht, sie haben es wohl in den Müll geworfen. Ich selbst bekam sehr hohes Fieber. Danach war ich seelisch tot. Ich empfand nichts mehr. Meine Mutter ließ sich die Pille verschreiben, von der sie mir hin und wieder zwei oder drei gab, immer, wenn ihr Mann in mein Zimmer kommen wollte.

Drei verschiedene alte Männer außerhalb der Familie wollten mit mir Sex haben und sagten das ganz unverhohlen. Man macht sich gar keine Begriffe, wie sehr einem Kind die Welt zusammenstürzen kann. Mein Gehirn ratterte wie verrückt, um eine Lösung zu finden, damit ich aus dieser Situation rauskam. Mir war völlig klar, dass sie nur deshalb darauf kamen, weil mein Stiefvater sie angestiftet hatte. Vielleicht hat er sogar Geld dafür bekommen. Jedenfalls habe ich mich geweigert und dann geschah auch nichts.

Mein Verhalten fiel in der Schule immer mehr auf. Einer Lehrerin habe ich mich mal offenbart. Sie hat gesagt, dass sie sich nicht in Privatangelegenheiten einmischen dürfe. Mit 15 habe ich diese Familie in einem unglaublichen Kraftakt verlassen. Erst als ich überzeugt war, dass ich dem Tode nahe bin, konnte ich diesen Entschluss fassen. Ich bin immer noch absolut erstaunt darüber, wie schwer mir trotz allem dieser Entschluss gefallen ist. Bildhaft gesprochen handelte es sich um eine Amputation. Aber es musste sein, denn in dieser Familie wird niemals jemand etwas für mich tun. Ich hatte alles genau vorbereitet und neben meinen Schulsachen nur die paar Groschen dabei, die ich im Sparschwein hatte. Ich hatte eine Schulkameradin, der ich es sagte. Sie nahm mich mit nach Hause. Ihre Großmutter, eine sehr lebenspraktische Frau, ging mit mir zum Jugendamt. Dort wurde abgemacht, dass ich ein paar Tage bei meiner Schulkameradin wohnen sollte, bis ein Heimplatz für mich gefunden war.

Für die Anzeige musste ich zur Polizei gehen. Eine junge Frau befragte mich nach dem Datum, nach Uhrzeiten, nach Häufigkeit. Ich antwortete, so gut ich konnte, hatte aber immer das Gefühl, dass ich es nicht richtig machte. Sie wollte wissen, an welchem Tag es angefangen hatte. Ich sagte, das wüsste ich nicht, das hätte ich vergessen. Sie sagte, das könne aber nicht sein. Den Tag des ersten Kusses merke sich doch jedes Mädchen.

Ich möchte betonen, dass ich durchaus auch Glück im Leben hatte. Nachdem ich mein Elternhaus mit 15 Jahren verlassen habe, hat mir nie wieder jemand etwas getan. Dafür habe ich Menschen getroffen, die mir geholfen haben. Mittlerweile bin ich eine glückliche Großmutter. Dafür bin ich unglaublich dankbar. Es war harte Arbeit, um so weit zu kommen und die schweren Depressionen zu überwinden. Ich hatte insgesamt zehn Jahre Therapie und zwei Klinikaufenthalte. Oft war ich einsam und traurig. Mein Studium habe ich aus eigener Kraft mit Volldarlehen und Jobs nebenher geschafft. In meinem Beruf bin ich sehr glücklich. Ich bin Lehrerin für Deutsch und Geschichte an einem Gymnasium und ich fühle mich gesegnet, weil ich so einen wunderbaren Beruf habe.