Meine Eltern waren überaus arm. Mein Vater war als 17‐Jähriger auf einer Baustelle verunglückt und seither blind. Er bezog eine kleine Zivilrente und verdiente als Stuhlflechter etwas dazu. In ihrer Not einigten sich meine Eltern Anfang der 1950er-Jahre darauf, mich als Hüterbuben zu Verwandten zu schicken.

Ich wechselte also in die Dorfschule, hatte Unterkunft und Essen, musste jedoch täglich um sechs Uhr aufstehen, Ställe reinigen, um acht Uhr in die nahe Schule laufen, nach Schulende mit den Kühen ausfahren. Schulaufgaben erledigte ich auf den Weiden. Kurz vor Weihnachten kehrte ich nach Hause zurück, bezahlt mit einer Hose, einem Hemd, Kniestrümpfen und einem Paar Stiefel, so wie es ausgemacht war. Die Verwandten erwiesen sich mir gegenüber stets freundlich, ich hatte alles in allem ein relativ gutes Jahr erlebt.

Im nächsten Jahr wurde ich zu anderen, besser situierten Verwandten geschickt, auch dort in der Dorfschule angemeldet. Hier war das Essen weitaus besser und abwechslungsreicher, die Arbeit nicht gar so schwer wie im Jahr zuvor. Der Bauer war Vater zweier Söhne und einer Tochter, alle deutlich älter als ich. Er war über Jahrzehnte hinweg Bürgermeister, ferner Schulverwalter und Kirchenvorstand, sein Ansehen und sein Einfluss waren beträchtlich. Ich war kaum ein paar Tage im Haus, da begannen seine stetig heftigeren Übergriffe: Wenn ich im gesamten Anwesen in allen dunklen Ecken Eier suchen musste, wenn ich den Kuh‐ und Schweinestall ausmistete, wenn ich Futter für die Kühe vom Heuboden oder frisch von einer angrenzenden Wiese holen und ausstreuen musste, wenn Getreidebündel aufgeladen und in der Scheune verstaut wurden, wenn gedroschen wurde oder geschlachtet, wenn wir im Holz arbeiteten, wenn ich mit ihm auf dem Pferdewagen ins Nachbardorf fahren musste, wo irgendetwas abzuholen war, wenn wir Brennholz für die Schule, den Pfarrer oder den Lehrer aufschichteten, ja sogar, wenn ich an seinem ehelichen Schlafzimmer vorbei in mein Zimmer gehen wollte, griff er mir zwischen die Beine, rieb mein Glied, zog meine Hand an sein erigiertes Glied, versuchte mich zu küssen.

Alle wussten, wie schlecht es uns ging.

Es war grauenhaft. Gleichzeitig trat er mit seiner Selbstherrlichkeit als Bürgermeister jeden Sonntag als frommer Christ auf, der es fertigbrachte, bei schönem Wetter dem Pfarrer die Predigt abzuschneiden: „Es reicht, wir müssen heuen!“ Er warnte den Lehrer, mich zu schlagen, desgleichen drohte er dem Pfarrer, der mich einige Male heftig geschlagen hatte: „Fass ihn mir nicht an!“ Zugleich war er der ekelhafteste, kälteste Kinderschänder, den ich mir vorstellen kann.

Ich habe Techniken entwickelt, ihm zu entkommen, habe Nachbarkinder mitgenommen, wenn ich irgendetwas suchen sollte, habe sogar die Tochter des Hauses gebeten, mir behilflich zu sein. Nur offenbart habe ich mich nie. Schlimmer noch: Ich habe meinen jüngeren Bruder nicht gewarnt, von dem ich weiß, dass er exakt das erlebte, was ich erlitten hatte. Er allerdings erwies sich als mutiger. Da er wusste, dass der nächstjüngere Bruder nach ihm ebenfalls dorthin geschickt würde, drohte er dem Onkel an: „Wenn Du diesen Bruder auch noch abgreifst, komme ich zurück und erschlage Dich!“

Ich werde in wenigen Monaten 80 Jahre alt, habe vier Kinder und drei Enkel. Es gibt keinen Tag, an dem ich nicht an das gedacht habe, was mir passiert ist. Auch ich habe zunächst die Schuld bei mir gesucht, im Laufe der Jahre jedoch einen Hass auf das soziale, politische und gesellschaftliche, übrigens auch religiöse Umfeld entwickelt. Alle wussten, wie schlecht es uns ging. Alle wussten, dass wir hungerten, man hat zugeschaut, die Kirchen, die Caritas, die Ämter. Erst Jahre nach der Geburt unseres letzten Kindes habe ich mich meiner Frau offenbart, aber natürlich konnte sie mir nicht wirklich helfen, immerhin zeigte sie ihr Mitleid. Ich hoffe, dass es irgendwann irgendwie gelingt, solche Menschen unverzüglich zu fassen und an ausgedehnteren Verbrechen zu hindern.