Ich war ein Kindergartenkind, es war Weihnachten und ich sah durch ein Schlüsselloch rotes glitzerndes Papier. Es war kalt. Auf einmal stand mein Onkel vor mir und sagte, dass es ihm wehtut und nur ich ihm helfen könne. Er würde mir Schokolade geben und ich dürfe mit niemandem sprechen darüber, sonst gehe es ihm ganz schlecht. Er hatte eine blaue Hose und Arbeitsjacke an, darunter weiße rippige Unterwäsche. Die Hose war offen. Er roch nach Alkohol, Rauch und abgestandenem Essen. Ich sollte eine Faust machen und gegen das Glied drücken. Immer wieder. Heute weiß ich, dass er das nicht durfte, aber damals war es beängstigend und beschämend. Ich habe das nicht gewollt und doch gemacht. Ich nahm die Schokolade und durfte nichts sagen.

Diese Art wiederholte sich, bis ich zehn Jahre alt war. Mit ungefähr sieben Jahren versuchte ich, mit meiner Mutter zu sprechen. Sie schimpfte mich, sie hätte mir doch verboten, in sein Zimmer zu gehen. Dabei war ich nie in sein Zimmer gegangen. Ich habe mich noch mehr geschämt und hatte Angst, dass meine Eltern ihm sagen, dass ich das Geheimnis verraten habe. Von da an habe ich mich zusätzlich von meinen Eltern beobachtet gefühlt. Ich vermied es, allein auf den Hof, in den Keller oder in die Scheune zu gehen. Mit meinen älteren Geschwistern versuchte ich, Arbeiten zu tauschen, zum Beispiel Kartoffelnholen aus dem Keller gegen den Abwasch. Besonders in Erinnerung habe ich meine Erstkommunion mit acht Jahren. Vorher war die übliche Erstbeichte. Ich hatte das Gefühl, dass ich nicht alles beichtete und somit die Beichte ungültig sei. Ich bin mit gefühlter schwerer Schuld zur Erstkommunion gegangen und fühlte mich von Gott verdammt. Zur anschließenden Feier saß mein Onkel mit am Tisch.

In den Himmel wollte ich auf keinen Fall.

Als ich zehn war, ist der Onkel gestorben. Vor meinen Augen auf der Straße. Meine Mutter hat versucht ihn wiederzubeleben. Ich kam damit nicht zurecht. Nicht damit, dass er tot war und genauso wenig damit, dass meine Mutter ihn retten wollte. Ich fühlte mich tief schuldig und es war, als ob er mich hinterherholen würde. In der Kirche sprachen alle von „friedlich“ und „guter Mensch“ und „Himmel“. In den Himmel wollte ich auf keinen Fall.

Ich denke heute, dass sexueller Missbrauch nicht in das Weltbild meiner Eltern passte und sie das deshalb verharmlost haben. Vielleicht auch aus Angst vor den Behörden der DDR. Es wurde alles weggeschwiegen und gab dementsprechend keine Hilfe. Meine Mutter vermittelte mir ein Bild von Sexualität, in der die Frau die Verantwortung trägt. Vor jedem Ferienlager habe ich von ihr eine Predigt über den Umgang mit Jungen bekommen, obwohl ich nie einen Freund hatte. Als ich schon erwachsen war und ein Priester mich mal mit dem Auto mitnahm, war sie sehr entrüstet, da ich ihn sicherlich verführe.

Heute befinde ich mich nach verschiedenen Therapieversuchen am Ende einer erfolgreichen Traumatherapie, und es geht mir inzwischen besser. Ich konnte erst in der jetzigen Therapie zum ersten Mal über den sexuellen Missbrauch sprechen. Das Abitur habe ich auf dem zweiten Bildungsweg bestanden und anschließend einen Bachelor- und einen Masterabschluss gemacht. Inzwischen arbeite ich in einer Führungsposition. Ich kann mein bisheriges Leben nicht ändern, aber mir ist es wichtig, anderen Ähnliches zu ersparen. Schweigen und Wegschauen ist unterlassene Hilfeleistung.