Ich bin von sexuellem Missbrauch durch meinen Großvater und meinen Stiefvater in den 1970er-Jahren betroffen. Die Übergriffe durch meinen Großvater fanden morgens in seinem Bett statt. Es war üblich, dass ich morgens in sein Bett geschickt wurde. Er erzählte Geschichten und fasste mich dabei an der Scheide an. Ich habe mich da schon weggebeamt und mich an Sätzen und Floskeln aus den Geschichten festgehalten. Oma machte meistens das Frühstück.

Mein Stiefvater hat mich gleich beim ersten Mal vergewaltigt. Meine Mutter arbeitete Nachtschicht. Er kam spätabends in mein Zimmer und hat sich auf mich draufgeworfen. Ich habe das erst spät begriffen, was er da gemacht hat. Meine Mutter war sehr oft abends nicht anwesend. Ich habe eigentlich immer damit gerechnet. Ich habe mein Bett mit Stofftieren vollgepackt, aber das hat nicht geholfen. Dabei und danach war er hoch aggressiv. Ich weiß genau, wie er körperlich aussieht und sich anfühlt, ich bekomme dieses Gefühl und diese Bilder nicht von meinem Körper weg. Ich wünschte, ich könnte gut zeichnen und damit „beweisen“, dass das alles stimmt.

Ich war ein völlig vernachlässigtes Kind und er war überwiegend anwesend und „kümmerte“ sich, kochte, war nach der Schule zu Hause, nahm mich abends mit in die Kneipe, sowas. Auch mein Stiefvater war starker Alkoholiker. Ich war erschrocken, als ich irgendwann begriffen habe, wie jung er war: 27 Jahre bei der ersten Vergewaltigung. Das fasse ich bis heute nicht. Es gab immer Streit zwischen meiner Mutter und ihm. Aber er war in dieser Zeit meine wichtigste Bezugsperson und ich habe ihn noch lange verherrlicht und auch nach meinem Wegzug mit 13 Jahren Kontakt zu ihm gesucht. Ich war sehr einsam.

Meine Großeltern waren hoch angesehene und in unserer Stadt wichtige Leute. Das war für mich ein wahnsinniger Konflikt: mein Großvater, der Held. Was bin schon ich gegen dieses Heldentum. Verrate ich nicht die gute Sache, wenn ich über seine Taten rede? Und jeder verehrte ihn. Er war im Gefängnis und im KZ. Natürlich war er hochgradig traumatisiert. Er war Alkoholiker. Bei uns ging viel Prominenz ein und aus. Wir gehörten sozusagen zum bundesdeutschen „Roten Adel“. Ich habe eigentlich gelernt, dass Kommunisten die besseren Menschen seien, die die Welt zum Guten verändern wollen. Es war fast sektenmäßig. Einerseits hat der enge Zusammenhalt der Erwachsenen mich vernachlässigtes Kind stabilisiert, man traf deutschlandweit immer die gleichen Erwachsenen und Kinder, andererseits ging es aber nie um ein Individuum, sondern immer nur um die Sache. Keiner stand morgens mit mir auf oder kümmerte sich um regelmäßiges Essen, Kleidung oder meinen Tagesablauf. Es war völlig klar, dass man dafür einen Preis zu zahlen hat und ich war ja immerhin nicht im KZ, dann konnte mein Leben ja nicht so schlimm sein.

Meine Mutter ist selbst von ihrem Vater, meinem Großvater, missbraucht worden. Wie konnte sie mich dann dort leben lassen? Sie muss es total verdrängt haben. Als ich ihr als 21-Jährige von meinen Erinnerungen erzählte, meinte sie nur, sie sei von ihrem Vater missbraucht worden und ich würde das auf mich projizieren. Habe ich ihr auch lange geglaubt. Ich hatte als Kind schon gelernt, dass ich mich angeblich immer nur wichtigmachen möchte.


Ich habe mein Bett mit Stofftieren vollgepackt, aber das hat nicht geholfen.

Mein Cousin hat einmal beobachtet, wie mein Großvater mit einem Zungenkuss meine Cousine sexuell bedrängt hat, vor ganz vielen Leuten und Verwandten. Mein Cousin erinnerte sich auch, dass ich Todesangst vor meinem Stiefvater hatte, als der mich ins Bett bringen sollte, und wie meine Mutter mich deswegen abwertete und als hysterisch und schwierig bezeichnete. Ich hatte auch Verletzungen an der Scheide und blaue Flecken an den Armen, wenn er mich zu festgehalten hat, aber das wurde auf Turnunfälle geschoben. Im Turnverein war ein alter Trainer. Der hat uns bei den Hilfestellungen überall angefasst. Das gehörte irgendwie dazu. Dass Männer das dürfen, hatte ich ja schon gelernt. War unangenehm, aber wenn man trainieren wollte, ging es halt nicht anders.

Meine Lehrerinnen in der Grundschule haben mich gut behandelt. Meine Musiklehrerin hat mir nach der Schule Flöte beigebracht und ich glaube, dass mich die Musik gerettet hat. Ich war eine ruhige, fleißige, sehr gute Schülerin. Schule hat mir Halt gegeben, dort spürte ich mich, ich war leistungsstark und interessiert. Aber ich wäre nie auf die Idee gekommen, mich dort anzuvertrauen. Ich hatte nirgendwo die Idee, dort könnte ich was sagen. Bei den Übergriffen durch den Großvater dachte ich auch, dass es sowieso alle wissen, und dass es so sein soll, schließlich haben mich Oma oder meine Mutter zu ihm ins Bett geschickt und danach haben wir alle zusammen gefrühstückt. Ich kam gar nicht auf die Idee, dass ich da was erzählen müsste.

Ich war mager, schlief nicht, erbrach mein Essen, hatte alle Fingernägel abgekaut und Wimpern ausgerissen, die Beine und Arme wund gekratzt. Ich war später mehrfach polizeiauffällig geworden: weggelaufen und am Bahnhof aufgegabelt, beim Klauen erwischt. Das Jugendamt war auf mich aufmerksam geworden, es gibt den Vermerk, dass es eine Akte gab, die Akte selbst ist leider nicht mehr erhalten. Die beste Freundin meiner Mutter arbeitete damals beim Jugendamt und konnte das „regeln“. Schade eigentlich.

Als meine Mutter ihren dritten Mann kennenlernte, schickte sie mich zurück zur verwitweten Großmutter. Sie war meine wichtigste und liebste Bezugsperson, und ich glaube, ich kann sagen, dass sie es wiedergutgemacht hat, weil sie mich wirklich geliebt hat und mich als Individuum und liebenswert gesehen hat. Meine Herzlichkeit und alles habe ich von ihr. Sie war eine beeindruckende, liebevolle, warmherzige Frau, aber das wohl vor allem, nachdem mein Großvater gestorben war.

Den Missbrauch hat damals keiner beendet. Aber ich hatte zum Glück immer tolle Menschen um mich herum, die mich unterstützt haben: Freundinnen und Freunde, die mich so genommen haben, wie ich bin, mit Panikanfällen und Ängsten, die mir zugehört haben und mich trotzdem liebenswert fanden. Mein Mann, der auf dieser Ebene bedingungslos zu mir steht, mich zur Schule, zur Uni, zur Arbeit, zu Ärzten gebracht hat und der nachts bei mir wacht, wenn es zu schlimm wird. Mein Deutschlehrer in der Oberstufe, der mir das Abitur ermöglicht hat. Die Professorinnen an den Unis, die mich gefördert haben. Meine ehrenamtliche Seelsorgerin, die mich jahrelang beraten hat, die ich immer anrufen konnte und noch viele andere.

Als Kind hatte ich keine Worte für das, was mir passierte, kein Wissen darüber, dass das falsch war und niemanden, den ich ansprechen konnte. Bitte setzen Sie sich dafür ein, dass die Kinder Worte und Wissen und Ansprechpersonen haben. Und dass die Erwachsenen lernen, den Kindern gegenüber Respekt zu zeigen.