Ich bin Anfang der 1950er-Jahre geboren. Meine Eltern waren Vertriebene aus Schlesien. Eines Tages kam ein Cousin meiner Mutter bei uns vorbei, er wohnte mit Eltern und Brüdern in einer benachbarten Stadt. Bis dahin wusste ich nichts von der Existenz dieser Verwandten.

Ich war etwa sechs Jahre alt, als dieser Cousin anbot, auf meinen kleineren Bruder und mich aufzupassen, wenn meine Eltern mal ausgehen wollten. Meine Eltern nahmen sein Angebot an und so schliefen mein Bruder und ich mit dem Cousin im Elternbett. Ich musste neben diesem Cousin liegen, obwohl das eigentlich mein Bruder gewollt hatte. Nachdem mein Bruder eingeschlafen war, nahm der Mann meine Hand, legte sie auf seinen Penis und begann sich zu befriedigen. Ich zog die Hand weg, und er flüsterte mir was ins Ohr. Was mir in Erinnerung geblieben ist, war sein Versprechen, mich zu einer Fahrt auf seinem Motorrad mitzunehmen. Mit seiner anderen Hand berührte er mein Geschlechtsteil. Ich wollte aufs Töpfchen und war völlig verwirrt. Am liebsten wäre ich wohl die ganze Nacht dort sitzengeblieben, doch er forderte mich auf, ins Bett zurückzukommen und machte weiter.

Nach diesem Geschehnis kam er zunächst nicht wieder bei uns vorbei. Ich sprach mit niemandem darüber. In dem Alter hat man auch noch keine Worte für das, was da mit einem geschieht, man weiß nur, es ist nicht richtig. Später dann haben wir die Tante meiner Mutter zu den verschiedenen Geburtstagen besucht, und weil die Busverbindung in diese Stadt sehr schlecht war und wir kein Auto besaßen, blieben wir über Nacht im Haus dieser Tante. Es war ein sehr kleines Fachwerkhaus, die Schlafräume unter dem Dach, ein Plumpsklo im Hof. Ich sollte im Schlafzimmer mit der Tante und eben jenem Cousin schlafen. Aller Protest half nichts, der Ablauf war dann immer wieder der Gleiche. Das alles bei zumindest sechs Geburtstagen im Jahr und bis zu meinem 12. Lebensjahr. Da weigerte ich mich eines Tages, meine Eltern zu einem dieser Besuche zu begleiten. Ich wollte allein zu Hause bleiben. Meine Mutter regte sich fürchterlich auf, ich galt nun als böse und undankbar, doch wir blieben zu Hause und von da an hörten auch die Übernachtungen im Haus dieser Tante auf.

Mit der Zeit verdrängte ich das Geschehene, bis ich mir später auch einredete, ich habe mir alles nur eingebildet. Ich habe von niemandem jemals gehört, dass so etwas geschieht und glaubte lange Jahre, die Einzige gewesen zu sein.


Ich habe von niemandem jemals gehört, dass so etwas geschieht.

Während meiner Pubertät hätte es meine Mutter wohl gerne gesehen, wenn ich mal aus dem Haus gegangen wäre, um mich mit Freunden zu treffen. Doch ich wollte nicht. Während der Tanzschulzeit kamen Jungs zu uns nach Hause, die meine Mutter fragten, ob sie mit mir ausgehen dürften. Hocherfreut sagte sie zu, nur ich wollte nicht. Hin und wieder bin ich unter Druck mitgegangen, habe diesen Jungen aber den Abend verdorben, sodass sie keinen weiteren Kontakt zu mir haben wollten. Von meiner Mutter hörte ich immer wieder, ich werde noch als Nonne im Kloster landen, wenn ich so weitermache.

Kein Verhältnis dauerte länger als ein Jahr. Anfang der 1980er-Jahre las ich im Spiegel einen Artikel mit dem Titel „Das geheime Verbrechen“. Das war auch mein Thema und ich war sehr verwirrt. Langsam wurde mir klar, dass meine Beziehungsmiseren mit meiner sexuellen Misshandlung im Kindesalter zusammenhängen könnten. So begann ich zu schreiben. Ich schrieb Briefe, die ich nie abschickte. Ich schrieb tage- und wochenlang, vielleicht an die 100 Seiten.

Was mich beschäftigt ist die Tatsache, dass sich seit dem Artikel im Spiegel vor 35 Jahren so wenig im Bewusstsein der Menschen geändert hat. Es ist so leicht, alles Unangenehme mit der Phrase abzutun: „Ach, die sind doch zu klein, die vergessen das.“ Kinder vergessen aber nicht, sie verdrängen, weil sie nicht wissen, was da geschieht und offensichtlich niemanden haben, dem sie sich anvertrauen können. Kinder werden sich kein Schild umhängen mit den Worten „Me too“, um auf sich aufmerksam machen. Um all die Kinder tut es mir leid.