Bisher habe ich, außer bruchstückhaft mit meinem Mann, mit niemandem wirklich drüber gesprochen, schon gar nicht in dieser Ausführlichkeit. Jetzt denke ich aber, dass es wichtig ist, dass nicht immer alles totgeschwiegen wird.

Den ersten näheren Kontakt hat der Leiter der örtlichen Musikschule nach einem Konzert, bei dem ich gespielt hatte, mit mir aufgenommen. Ich war zu diesem Zeitpunkt 12 Jahre alt. Während ich meine Sachen zusammengepackt und mein Instrument gereinigt habe, ist er von hinten an mich herangetreten, hat mir mit der Hand über Taille und Hüfte gestrichen und mir dabei ins Ohr geflüstert, ich hätte einen wunderschönen Körper. Ich war sehr erschrocken, konnte nicht wirklich etwas erwidern und habe gehofft, dass es niemand gehört oder gesehen hat. Es war mir zutiefst unangenehm und der Satz hat sich die ganze Zeit in meinem Kopf gedreht. Kurze Zeit später hat er meine Eltern gefragt, ob er mich mal zum Essen einladen dürfe, da er das mit all seinen sehr guten Schülern mache. Er hatte immer eine sehr verbindliche, professionelle Art und Weise sich zu präsentieren. Meine Eltern haben zugestimmt. In den nächsten knapp zwei Jahren hat er mich immer wieder abends zum Essen eingeladen, hat mir Wein ausgeschenkt, mich zu Konzerten mitgenommen, mich behandelt wie eine Erwachsene. Ich kann nicht genau sagen, wie oft genau wir uns getroffen haben. Meinen Eltern kam das alles scheinbar nicht ungewöhnlich vor, meine Mutter hat mich vor den Treffen immer liebevoll hübsch ausstaffiert und mich ihm mitgegeben.

Seine Lieblingsgesprächsthemen zum Abendessen waren Sex im Allgemeinen und verschiedene sexuelle Praktiken im Speziellen. Mir waren diese Gespräche ausgesprochen unangenehm. Zitate von ihm kann ich auch heute noch nicht wiedergeben, es kommt mir einfach nicht über die Lippen. Er hat beispielsweise gefragt, ob meine Eltern freizügig wären, und ob wir zu Hause oft unbekleidet herumliefen.

Er erzählte mir, er habe neben seiner Tätigkeit als Musiklehrer eine Ausbildung als Sexualtherapeut absolviert. Er überlege mit einem befreundeten Gynäkologen eine Praxis zu eröffnen. Er wisse genau, wie er eine Frau optimal befriedigen könne, sein Favorit sei der Oralverkehr. Und ob ich das schon mal ausprobiert hätte. Seine Vorliebe für Oralverkehr sei auch der Grund, warum er auf jüngere Mädchen stehen würde: Sie würden anders ‒ besser ‒ schmecken. Ich wäre am liebsten im Erdboden versunken. Immer wieder berichtete er mir, dass er extrem gute Kontakte und viele Freunde bei der Polizei habe, da er mit diesen bei verschiedenen Anlässen zusammenarbeiten würde. Außerdem sei er mit dem Bürgermeister per Du und erwähnte immer wieder, wie gut sie sich doch kennen würden. Er hat mir ansonsten erzählt, was er an mir alles toll finde, und versprochen, dass er mich fördern würde, etc. Ich bin damals überhaupt nicht auf die Idee gekommen, irgendjemandem davon zu erzählen, da mir alles von Anfang an extrem peinlich war, und ich gleichzeitig überhaupt nicht verstanden habe, was eigentlich passiert.

Er erzählte mir, er habe neben seiner Tätigkeit als Musiklehrer eine Ausbildung als Sexualtherapeut absolviert.

Während der Zeit habe ich angefangen, mich selbst zu verletzen und denke retrospektiv, dass ich damals die erste Depression hatte. Meine schulischen Leistungen haben extrem abgebaut, und mir war alles zu viel. Ich wollte am liebsten nicht mehr leben und meine Ruhe haben und habe ein paar Monate vor meinem 14. Geburtstag versucht, die Gefäße am linken Handgelenk zu durchtrennen, um zu sehen, ob es lang genug bluten würde, dass ich einfach einschlafen könnte. Hat es nicht. Aber ich habe gemerkt, wie erleichternd das Schneiden war und wie ich mich dadurch wieder spüren konnte. Ich habe ihm dann auch bei einem unserer gemeinsamen Abendessen die Schnitte gezeigt, er ist darauf aber nicht näher eingegangen.

Um meinen 14. Geburtstag herum hatte ich meinen ersten Freund. Er war 6 Jahre älter. Ich berichtete dem Musiklehrer etwas trotzig, dass ich bereits mit ihm geschlafen hatte, da ich wohl dachte, ich wäre dann nicht mehr interessant für ihn. Er hat eifersüchtig reagiert und gefordert, ich solle mich von meinem Freund trennen. Zudem hat er mir Beispiele erzählt, wie er das Leben von Leuten zerstören könne, wenn er das wolle.

Die Beziehung zu meinem ersten Freund hat sich nicht gut entwickelt. Es endete mit einer Vergewaltigung. Ich habe einem Lehrer meines Vertrauens von der Vergewaltigung erzählt. Der Lehrer hat dann ein Gespräch mit meinen Eltern geführt: über das Schneiden, die Vergewaltigung, Alkohol, Leistungsabfall in der Schule. Meine Mutter war danach sauer auf mich, da ich mich an jemand „Fremden“ mit meinen Problemen gewandt hatte, und sagte, ich solle einen Aids-Test machen. Sonst haben wir nie wieder darüber gesprochen.

Da ich eine gute Musikerin war, hat mir der Musiklehrer angeboten, Kindern Anfängerunterricht zu geben. Die Geldübergaben zu diesem Schülerjob waren unangenehm und anzüglich. Irgendwann um meinen 15. Geburtstag herum intensivierte sich der Kontakt weiter, während er versuchte, meine Treffen mit meinen anderen Freunden einzuschränken. Er lud mich abends in die Musikschule ein, „um mir Unterricht zu geben“, stellte dabei eine Kerze aufs Klavier, strich mir beim Spielen über den Rücken und die Hüfte, nahm meine Hände, flüsterte mir Dinge ins Ohr. Bei einer Autofahrt fasste er mir dann auch zwischen die Beine, drang mit den Fingern immer wieder vaginal ein. Er wollte unbedingt, dass es mir gefällt, somit dauerte das Ganze eine gefühlte Ewigkeit. Dieses Erlebnis verschlechterte meine Situation und ich entwickelte zusätzlich zu dem selbstverletzenden Verhalten eine Essstörung.

Zum Glück lernte ich kurz darauf meinen jetzigen Mann kennen, der damals bei der Zeitung arbeitete. Daraufhin hat sich der Musiklehrer zurückgezogen. Ich weiß, dass er mindestens eine weitere Schülerin zur selben Zeit ähnlich „hofiert“ hat. Nachdem das alles vorbei war, habe ich einmalig gegenüber meiner ehemaligen Musiklehrerin erwähnt, dass „er mich angefasst hat“. Sie sagte, das tue ihr leid, sonst ist nichts passiert. Auch gegenüber meiner Mutter erwähnte ich es einmal, sie hat mich kurz überrascht angeschaut und das Thema gewechselt.

Noch heute leide ich unter den Auswirkungen dessen, was mir damals passiert ist. Grenzüberschreitungen und Stressereignisse rufen in mir schnell Gefühle der Hilflosigkeit hervor. Erst eine Therapie konnte mir helfen, diese Zusammenhänge aufzudecken. Trotzdem kann ich heute ein erfülltes Leben führen und möchte anderen Mut machen, dass sie es ebenfalls können, auch wenn die Erinnerungen einen nie ganz verlassen.
Sehr leid tut mir, dass ich wahrscheinlich weder die Einzige noch die Letzte gewesen bin, der das passiert ist, und fühle mich durch das Schweigen irgendwie mitschuldig. Ich habe aber einfach lange geglaubt, dass das irgendwie normal ist. Insgesamt war er 40 Jahre lang Leiter der Musikschule.