Ich weiß noch genau, wie der Raum ausgesehen hat, in dem ich Akkordeon spielen lernte. Ich war sieben Jahre alt. Wenn der Notenhalter auf dem Tisch vor mir stand und mein Akkordeon schwer vor mir hing, sagte der Musiklehrer, welche Tonleitern ich mit der rechten Hand spielen sollte und zog meine linke Hand rüber in seinen Hosenschlitz. Ich weiß nicht, aus welchem Grund ich nichts sagen konnte. Manchmal konnte ich meine Hand wegziehen, doch dann versuchte er seine Hand zwischen meine Beine zu bekommen. Es roch modrig, wenn er versuchte mich zu küssen.

Zur Belohnung für mein gutes „Spiel“ durfte ich die Hasen streicheln. Auch Geld hat er mir gegeben und gesagt, ich dürfe mit keinem Menschen darüber reden. Seine Frau hat gegenübergesessen und geschlafen – oder so getan. Manchmal, wenn sie einkaufen war, durfte ich mit einer kleinen Tänzerin auf einer runden Glasfläche spielen. Wenn man den Magneten bewegte, begann sie zu tanzen. Die Tänzerin gab es nur im Schlafzimmer. Ich weiß noch, wo der Raum war und die Figur stand, aber der Rest vom Raum ist aus meinem Kopf verschwunden. Alles schwarz.

Als ich Kind war, wurde das Badewasser noch in der Waschküche in einem großen Kessel heiß gemacht. Eine Zinkwanne wurde aufgestellt und so konnten wir samstags baden. Meine Mutter stellte mich nach dem Baden auf die große Holzkiste und trocknete mich ab. Als sie meine Genitalien berührte, sagte ich: „Das macht der Musiklehrer auch immer.“ Ich zeigte ihr dann das Geld, das ich in meinem Schrank versteckt hatte. Sie sagte zu mir, ich solle morgen zu ihm gehen und ihm sagen: „Wenn er das noch einmal machen würde, würde sie zur Polizei gehen, denn sie wisse, dass er deswegen schon einmal im Gefängnis war.“


Ich kämpfe weiter.

Meine Mutter und ich sprachen jahrelang nicht mehr über diesen Vorfall. Aber ich konnte dem Täter nichts sagen. Von da an war ich nur noch selten beim Unterricht, sondern hielt mich in der Zeit irgendwo versteckt.

Später sollte ich beim Fest der jungen Talente ein Lied vorspielen. Doch das konnte ich nicht, weil ich es nie geübt hatte. Ich spielte irgendwelche Töne, die nichts mit dem Lied zu tun hatten. Und nun war allen klar, dass ich nach relativ langer Unterrichtszeit wohl kein Talent hatte. Irgendwann habe ich erfahren, dass dieser alte Mann gestorben war. Ich saß über dem Friedhof auf einer Wiese und habe bei der Beerdigung zugeschaut. Ich wollte sehen und doch nicht dabei sein. Ich habe mich bei Gott für seinen Tod bedankt.

Ich war viel in der Kirche und habe täglich vor verschiedenen Altären gebetet, aber keiner hat mir geholfen, kein Mensch, kein Engel, keine Maria, kein Jesus und kein Gott. Heute vermute ich, dass meine Mutter aus Scham geschwiegen hat. Jahre später habe ich erlebt, dass eine Familie, deren Tochter von einem Lehrer missbraucht wurde, das katholische Dorf verlassen musste, weil die ehrenwerten Menschen dort mehr zu einem verurteilten Mann gehalten hatten als zu ihr und ihrer Familie: „Die hat einen zu kurzen Rock getragen und den armen Lehrer verführt.“ Die Familie musste gehen, weil ihnen das Schamgefühl durch das Gerede der Leute keine andere Wahl ließ. Obwohl ich einen Realschulabschluss habe, bin ich in der ganzen Schulzeit mit Ängsten rumgelaufen, da ich mich oft nicht konzentrieren konnte. Wenn ein Lehrer streng wurde, konnte ich nicht lernen. Hätte ich den Missbrauch in der Kindheit nicht erlebt, dann wäre auch mein Leben sicher anders verlaufen. Vielleicht bin ich stark, vielleicht auch nur ein Meister der Verdrängung. Ich habe sechs Kinder und glaube heute, dass meine Kinder mich immer geschützt haben und ich sie schützen wollte. Ich kämpfe weiter. Ich möchte, dass Täter ihre Taten und die Folgen begreifen. Ich habe keine Angst davor, im Wald und in der Nacht alleine zu sein, aber ich habe Angst, ganz tief in mir und oft vor anderen Menschen.