Ich war etwa 12 Jahre alt und sollte beim Arzt ein Rezept abholen. Es war Sommer, schönes Wetter, es war viel los in der Stadt. Ich musste durch eine kleine Parkanlage. Auf dem Rückweg sprach mich ein Mann in den Mittfünfzigern an und winkte mich zu sich. Da ich zur Höflichkeit erzogen wurde, bin ich hingegangen, im Glauben, er wolle nach dem Weg oder der Uhrzeit fragen.

Kaum war ich bei ihm, packte er mich am Handgelenk und zog mich mit sich. Bei mir setzte alles aus, ich war starr vor Schreck und war erst mal unfähig zu reagieren. Es gelang mir dann, mich loszureißen und wegzulaufen. Ich rannte instinktiv zur Straße, merkte aber, dass der Mann mich verfolgte. Ich lief zur Tankstelle, wo mein Vater regelmäßig tankte. Der Tankwart kannte mich gut und ich bat ihn, mir zu helfen. Ich erzählte ihm, was passiert war, und bat ihn, dass einer seiner Leute mich nach Hause bringt. Darauf schob er mich zur Tür und meinte, er hätte doch kein Taxiunternehmen. Wenn ich was hätte, solle ich zur Polizei gehen.

Wie sollte ich nun damit umgehen? Meiner Mutter konnte ich es nicht erzählen, weil sie eine einschlägige Meinung dazu hatte. Frauen und Mädchen, die belästigt und vergewaltigt werden, sind selber schuld. Meinem Vater wollte ich nichts erzählen, weil ich wusste, er würde sich sofort in sein Auto setzen und den Kerl suchen, und wenn er ihn gefunden hätte, hätte er ihn zu Brei geschlagen. Also blieb nur mein älterer Bruder. Der hat mich, wann immer seine Zeit es zuließ, nicht mehr allein irgendwo hingehen lassen. Aber immer ging es halt nicht. Da fing ich an, mir selbst zu helfen. Erst ging ich nur mit einem aufgeklappten Taschenmesser auf die Straße, später war ich häufig in Begleitung meines Hundes unterwegs. An einem Abend, an dem ich Schritte hinter mir hören konnte und diese Schritte mich verfolgten, hat mein Hund mich beschützt. Ich flüsterte „Pass auf!“ und mein Hund verwandelte sich in eine Bestie, rannte laut bellend hinter den Schritten her, die sich schnell entfernten. Mein Hund war stolz, ich war stolz. Ich hatte einen ersten Teilsieg errungen.

Alle haben es mitbekommen.

Später beschäftigte ich mich mit Psychologie. Mich ließ die Frage nicht los, was einen erwachsenen Mann dazu treibt, sich an Kindern zu vergreifen. Ich habe alles verschlungen, was ich zu dem Thema finden konnte. Dabei fiel mir unter anderem ein Grund auf, weshalb solche Taten unzureichend geahndet werden: Keiner hilft. Alle haben es mitbekommen. Die Parkanlage war gut besucht. Alle Bänke waren besetzt. Auch mit Frauen mit Kinderwagen, in der Stadt war viel los, alle haben gesehen, wie ein Mädchen völlig verstört und weinend in Panik um sein Leben rennt. Niemand wollte einen Zusammenhang herstellen zu dem Mann, der auffälligerweise im Sommer mit einem Mantel bekleidet war und dieses Kind verfolgte. Und schließlich der Tankwart, den ich direkt ansprach und um Hilfe bat, dem ich den Kerl, der auf der anderen Straßenseite auf mich wartete, sogar gezeigt habe, nicht mal der wollte mir helfen. Die Hauptschuldigen dieser Taten sind die, die hinsehen und dann wegsehen.

Heute habe ich immer noch Albträume mit demselben Inhalt – ich werde durch eine dunkle Stadt verfolgt, mein Verfolger ist unsichtbar. Ich klopfe an alle Türen, alles ist dunkel. Niemand öffnet mir. Ich versuche zu schreien, bekomme aber nicht mal den Mund auf. Zum Glück bin ich ein selbstbewusster, differenzierter Mensch geworden, vielleicht auch um nicht zu viel Leid und Angst an mich heranzulassen. Weil ich weiß, wie sehr es einen lähmen kann und man dann nicht mehr handlungsfähig ist.