Etwa mit zehn Jahren bin ich allein zum Fahrradhändler gegangen. Er küsste mich und begrapschte mich im Genitalbereich. Es war ekelig. Es ging über eine längere Zeit. Zu Hause erzählte ich es meinen Eltern, die mir verboten, nochmals zu ihm zu gehen. Somit war der Vorfall für mich beendet, und ich hatte ihn jahrelang vergessen. 

Als ich mit meinem Mann zusammenkam, erinnerte ich mich und erzählte ihm über den Vorfall. Er sagte, dass er wusste, dass da mit dem Fahrradhändler mal was war und berichtete: „Meine Eltern hatten mich damals danach gefragt, weil mein bester Freund nicht mehr zu ihm gehen durfte. Ich war schon ziemlich groß, als ich mein Fahrrad bekam und war häufig bei ihm. Er hat mir nichts getan. Einmal war die Tür zur Werkstatt abgesperrt, ich klingelte oben in der Wohnung. Seine Frau sagte, er müsse in der Werkstatt sein, woraufhin ich noch einmal massiv an die Tür klopfte. Schließlich öffnete er. Ein kleines blondes Mädchen kam aus dem hinteren Raum verstört heraus und lief an mir vorbei.“

Als ich 25 Jahre später mit meinen Kindern am Friedhof entlanglief, wollte der inzwischen alte Mann meine Kinder küssen. Ich hatte große Mühe, sie von ihm fernzuhalten, weil er immer wieder auf sie zustürzte. Diesen Vorfall meldete ich am nächsten Tag der Polizei. Ich erzählte, dass er mich einmal unsittlich berührt hat und jetzt meine Kinder. Was hat er all die Jahre dazwischen getan? Man erklärte mir, dass ich ein Annäherungsverbot vor Gericht erwirken müsse, was viel Zeit kostet und wenig Sinn ergibt, weil ich nicht mehr in dem Ort wohne. Also habe ich nichts gemacht.

Beim Klassentreffen wollte ich fragen, wer noch solche Vorfälle mit ihm erlebt hatte, traute mich aber nicht, in die Öffentlichkeit zu gehen. Kurz darauf erfuhr ich von meinen Eltern, dass eine Klassenkameradin wegen ihm in Kur sei. Im folgenden Jahr hatte ich endlich den Mut, mich mit ihr zu treffen. Und was ich da erfuhr, war grausam: Missbrauch so schlimm, wie man es sich nicht vorstellen kann. Ich hatte jahrelang angenommen, er „grapscht halt nur“. Wie kann man so blind sein, obwohl ich die Anzeichen gesehen habe? Auf dem Schulhof soll es geheißen haben: Warst du am Wochenende auch beim „Zungentypen“? Irgendwie war es bekannt im Ort und dennoch hat man die Tragweite nicht verstehen können.

Irgendwie haben es alle im Ort gewusst.

Und genau das ist das Problem der Gesellschaft: Sie sieht es, kann oder will es aber nicht richtig deuten und hinterfragen. Jede Freundin, mit der ich dann darüber geredet habe, kannte eine eigene Geschichte. Sei es, dass der Vater unangenehm nahegekommen ist, dass der Onkel einen Zungenkuss gegeben hat, der Geschäftsmann heimlich irgendwo hingelockt hat, die Jungs in der Schule die Brüste der Mädchen durch Anfassen „abgewogen“ haben, der Pfarrer den BH geschnipst hat: Immer „war doch nichts“.

Ich hatte sehr viel Glück und bin meinen Eltern unendlich dankbar, dass sie mir geglaubt und mich von dem Fahrradhändler ferngehalten haben. Doch ich hatte, nachdem ich das Ausmaß des Missbrauchs an den anderen erfahren hatte, echte Schuldgefühle, dass ich es nicht angezeigt hatte. Ich konnte einfach nicht verstehen, dass es so viel schlimmer war, es alle im Ort gewusst haben und keiner was gemacht hat.

Vor einigen Jahren sprach ich den Bürgermeister an wegen eines Gedenksteines für die Opfer sexuellen Missbrauchs. Nach zweimaliger Vertagung wurde der Antrag, einen Gedenkstein auf dem Friedhof zu errichten, abgelehnt. Den Gedenkstein habe ich trotzdem in Auftrag gegeben. Ich fragte den Pfarrer und den Gemeindereferenten, ob sie sich vorstellen könnten, den Stein auf kirchlichem Grund zu errichten. Und es lief alles so, wie man es sich immer wünschen würde: Sie hörten mir zu, sie glaubten mir und sie scheuten sich nicht davor, obwohl es die politische Gemeinde bereits abgelehnt hatte. Sie fragten, ob sich eine weitere Betroffene mit ihnen in Verbindung setzen kann, damit es nicht nur ein Einzelinteresse ist. Auch bei der folgenden Pfarrgemeinderatssitzung hörten alle aufmerksam zu, fragten behutsam nach und entschieden, den Gedenkstein auf kirchlichen Grund zu stellen und sogar die finanzielle Abwicklung zu übernehmen.

Mein Wunsch, einen Gedenkstein gegen sexuellen Missbrauch zu errichten, ist in Erfüllung gegangen. Es fand eine wunderbare Segensfeier mit sehr klaren Worten und einer ganz tollen positiven Atmosphäre statt, die mir eine innere Zufriedenheit schenkt. Im Ort wird noch viel geredet, aber es kann nicht mehr vertuscht werden!