Ich bin Anfang der 1950er-Jahre in einer Kleinstadt geboren. Erste Übergriffe fanden mit etwa zehn Jahren statt, als meine Brust anfing, sich zu entwickeln. Eine Tante nahm dies zum Anlass, sie in unbemerkten Momenten „bewundernd“ anzufassen und zu streicheln. Ich wollte diese Gelegenheiten meiden, was mir aber durch das häufige familiäre Aufeinandertreffen nicht gelang.

Meine Mutter, der ich mich anvertraute, versuchte das Ganze zu relativieren, es sei sicherlich nicht so gemeint. Sie wollte nicht Stellung beziehen bzw. sie hätte am liebsten nichts davon gewusst. Mein drei Jahre älterer Bruder überraschte mich im Schlaf. Ich spürte seine Hände auf meinen Brüsten. Ich war wie erstarrt, wusste nicht, was ich tun sollte, drehte mich auf den Bauch. Dann verließ er schnell und leise mein Zimmer. Aber ich ertappte ihn an weiteren Abenden, er hatte sich in meinem Kleiderschrank versteckt, um auf seine Gelegenheit zu warten. Ich hatte es irgendwie geahnt und wollte, dass er mich nicht wieder so berührt. Ich lief zu meiner Mutter, sie solle ihn aus meinem Zimmer verbannen. Sie hat meine Angst sicherlich gespürt, spielte die Situation aber auch jetzt wieder herunter, ein sexuelles Interesse meines Bruders an seiner kleinen Schwester durfte einfach nicht sein. Von da an habe ich ihr nie wieder erzählt, was ich an Übergriffen erlebt habe.

Mit 16 Jahren bin ich von einem ehemaligen Freund, in den ich sehr verliebt war, vergewaltigt worden. Es war im November, gegen Mitternacht, nach einem Disco-Besuch. Ich befand mich allein auf dem Heimweg. Er folgte mir, holte mich ein und zerrte mich auf ein Feld. Dort drückte er mich mit Gewalt zu Boden und vergewaltigte mich. Je mehr ich mich wehrte und schrie, desto brutaler wurde er. Er tat mir sehr weh und irgendwann dachte ich, dass ich das nicht überleben werde. Ich wehrte mich nicht mehr. Er war mein früherer Freund und ich konnte und wollte nicht wahrhaben, dass er mir das angetan hat. Ich habe etwa 40 Jahre lang mit niemandem darüber gesprochen, es nur meinem Tagebuch anvertraut. Diese Zeilen über die Vergewaltigung und meine Reaktion nach der Vergewaltigung haben mich wütend gemacht. Ich habe das Buch vor einigen Jahren zum ersten Mal nach vielen Jahren noch einmal gelesen, als es mir beim Aufräumen in die Hände fiel. Wieso konnte ich nicht zur Polizei gehen, wieso ist er einfach so davongekommen, wieso habe ich ihn nicht als abscheulichen Vergewaltiger wahrgenommen und wieso habe ich ihm eigentlich sofort verziehen?

„Es gab in meiner Jugend niemanden, dem ich mich hätte mitteilen können.“

Mit 17 bin ich von einem mir gegenüber sitzenden Mann während einer Zugfahrt bedrängt worden, als wir durch einen längeren Tunnel fuhren. Er versuchte mit seinem Knie, meine Beine zu öffnen und war dabei offensichtlich sehr erregt, seine Beine zitterten. Wir waren nicht allein im Abteil, ich hätte reagieren und ihm Einhalt gebieten können. Aber ich blieb stumm und war wie versteinert. Ebenfalls in diesem Alter traf ich beim Umsteigen an einem Bahnhof einen Mann. Er hatte wohl mitbekommen, dass mein Zug weg war und bot mir an, mich nach Hause zu fahren. Er müsse eh in diese Richtung. Da der nächste Zug frühestens in einer Stunde fuhr, sagte ich Ja und sah unser Zusammentreffen als glückliche Fügung an. Er war nett, erzählte von seiner Familie und wie gefährlich das Trampen sei, er mich nun aber sicher und schnell nach Hause bringen werde. Ich stieg vorher schon aus, wollte nicht, dass er meine Adresse erfährt bzw. meine Eltern etwas davon mitbekommen und bedankte mich für seine Hilfsbereitschaft. Am nächsten Abend stand er wieder in der Unterführung, weil er ja auch immer um diese Zeit in meine Richtung fahre. Da er ein liebenswerter Mensch zu sein schien, mit dem man sich gut unterhalten konnte, stieg ich wieder bei ihm ein. So ging es einige Zeit lang, bis er mich eines Tages anfasste. Wir fuhren die Landstraße entlang, als er plötzlich seine Hand zwischen meine Beine gleiten ließ. Ich stieß sie sofort weg und schrie ihn an, er solle damit aufhören. Als er nicht darauf reagierte, sondern weitere Versuche startete, öffnete ich meine Beifahrertür um rauszuspringen, falls er nicht sofort die Hand wegnehmen würde. Ich war fest entschlossen, es zu tun, doch dann nahm er sie weg und fuhr weiter. Bis ich ausstieg, versuchte er mir zu erklären, dass ich nichts zu befürchten gehabt hätte, dass er mir nie etwas antun würde. Seit diesem Abend verabredete ich mich immer mit anderen, um nie wieder allein mit dem Zug fahren zu müssen. Da fing er an, mich zu stalken, er stand am Bahnhof des Ortes meiner Arbeitsstelle, am Umsteigebahnhof, am Bahnhof meines Heimatortes und auch mittags am Tag der Berufsschule in der Nähe der Bushaltestelle. Ich konnte mich ihm entziehen, indem ich Freunde und Kollegen davon erzählte und sie mich als Gruppe begleiteten oder indem ich an anderen Haltestellen zu- oder ausstieg und andere Fahrzeiten nahm. Irgendwann gab er auf.

Während meiner Ausbildung wurde ich von einem älteren Mitarbeiter angefasst. Er nutzte Gelegenheiten, wenn wir uns allein im Raum befanden, stellte sich ganz nah vor mich und fasste mir an die Brüste. Zuerst war es nur ganz kurz, anscheinend unbeabsichtigt, und ich wusste nicht, wie ich damit umgehen sollte. Als es aber eindeutig wurde, wehrte ich mich und drohte damit, dass ich seine Frau davon in Kenntnis setzen würde. Daraufhin bat er mich, das nicht zu tun, er hätte doch nichts Schlimmes gemacht. Er bedrängte mich nie wieder.

Mit 19 hatte ich eine Mandel-OP. Der Arzt, der die Operation durchgeführt hatte, fand es wichtig, immer wieder mal zwischendurch nach mir zu sehen. Ich war allein im Zimmer. Er setzte sich zu mir aufs Bett, legte seinen Unterarm auf meinen Brustkorb und „untersuchte“ meinen Hals von außen, wobei er danach seine breit geöffnete Hand langsam über meine Brust gleiten ließ. Hier war ich wieder sprachlos, konnte mich nicht dagegen wehren. Die nächsten Male zog ich, sobald er das Zimmer betrat, die Bettdecke bis zum Kinn, erfolglos. Er schaffte es jeden Tag, es so aussehen zu lassen, als gehörten seine ausgedehnten Abtastungen zu seinen Aufgaben. Als einfühlsamer Arzt schien er nur an einer komplikationslosen Genesung seiner jungen Patientin interessiert zu sein. Er wurde übergriffig, ohne ein Risiko einzugehen.

Es gab in meiner Jugend niemanden, dem ich mich hätte mitteilen können. Ich war jung, ziemlich hübsch, trug Kleider und Röcke und war in den Augen der anderen daher wohl selbst schuld. Obwohl ich damals kaum Sex mit meinen Freunden hatte oder wollte, wurde ich von einigen Erwachsenen als Flittchen betitelt. Dieses Urteil allein nach dem äußeren Erscheinungsbild war schnell gefällt. Die allgemeine Situation in den 1960ern und 1970ern ließ so etwas zu, man hatte das hinzunehmen, irgendwas musste man ja gemacht haben, dass „die Leute“ so auf einen reagierten. Anfassen? Na, so schlimm ist das doch nicht. Stell dich bloß nicht so an.