Meine ersten Erinnerungen beginnen mit dem fünften Lebensjahr, als ich in ein sogenanntes Kleinstheim wechselte. Laut Jugendamt sollte ich Familienanschluss erhalten, da kein wesentlicher Kontakt zur Mutter bestand. Das Heim nannte sich „Kinderhaus“. Der Heimleiter und die Heimleiterin waren hauptsächlich für uns zuständig. Wir sollten sie „Mama“ und „Papa“ nennen.

Das Ehepaar hatte mehrere leibliche Kinder. Zusätzlich waren wohl acht Pflegekinder erlaubt. Das Ehepaar war streng religiös. Die Heimleiterin war evangelisch und der Heimleiter katholisch. Das Erste, was mir beigebracht wurde, war, dass Gott alles sieht und hört. Wir wurden regelmäßig zur Beichte geschickt, wobei wir auf Zettel unsere Sünden aufschreiben und ihnen vorzeigen mussten. Es war für mich wie eine Sekte, nach außen wurden wir abgeschirmt. Die Werte wurden uns von ihnen mit Prügel, Ohrfeigen, kalten Duschen, Reinigungsriten, Tritten, Haare ausreißen, Beschimpfungen und Erniedrigungen eingetrichtert.

Missbraucht wurde ich im Heim ab dem ersten Tag, bis ich mithilfe einer Schulkameradin mit 17 Jahren flüchtete. Der Missbrauch fing damit an, dass viel über Körper gesprochen wurde. Es gab intensives Waschen im Genitalbereich. Da die Familie ein kleines Hallenbad und eine Sauna besaß, wo man nur nackt schwimmen durfte und auch zwanghaft musste, wurde Nacktheit unter dem Deckmantel „normal“ deklariert. Angeblich war man immer dreckig und würde sich nicht richtig waschen. Nachts wurde ich geweckt, damit ich nicht ins Bett machte und im Badezimmer von den Heimleitern missbraucht. Ins Bett machte ich aber, weil ich Angst hatte vor dem Badezimmer, wo ich missbraucht wurde.

Als ich 13 Jahre alt war, zog das Heim um und ich wurde überwiegend im Schafstall von dem Heimleiter missbraucht. Da konnte er sicher sein, dass die anderen Kinder im Haus waren. Nach dem Abendessen durfte keiner mehr raus. Ich wurde von der Heimleiterin rausgeschickt, angeblich um die Schafe zu füttern. Das war abgesprochen zwischen dem Ehepaar. Die Heimleiterin hat mich die ersten Jahre in meinem Zimmer vor dem Schlafen gehen missbraucht, angeblich um mich zu waschen. Als ich älter wurde und die Periode einsetzte, hat sie mich mit dem Hund missbraucht. Sie meinte der Hund rieche das. Das war erniedrigend, beschämend und ich hatte wahnsinnige Angst. Der jeweilige Hund war entsprechend verstört und unberechenbar.

Die Erzieherinnen im Heim waren überwiegend junge Frauen. Sie wurden vom Heimleiter am Busen begrabscht und lachten dann verlegen. Sie wussten von der Situation und haben nichts gemacht. Sie wurden selbst sexuell belästigt vom Heimleiter. Ich denke, sie haben aus Scham geschwiegen. In einer unvollständigen Akte, die ich vom Jugendamt über einen Anwalt einforderte, hat eine Mitarbeiterin ihre Zweifel über die erzieherische Qualifikation der Heimleiterin geäußert. Meiner Meinung nach wurden die Kinder ins Haus geholt, um sie zu missbrauchen. Ich verstehe bis heute nicht, wie erwachsene Menschen das nicht sehen konnten. Als Opfer steht man damit allein, alle wenden sich ab, sobald man das offen ausspricht. Ich verstehe nicht, dass den leiblichen Eltern die Kinder entzogen werden, um sie dann in so ein Heim zu geben. Ein Psychologe hätte das direkt durchschaut, was in diesem Heim lief. Ein kritisches Hinterfragen hätte vielen Kindern Leid erspart.

Ein kritisches Hinterfragen hätte vielen Kindern Leid erspart.

In der weiterführenden Hauptschule war der Heimleiter auch unser Lehrer. Die doppelte Kontrolle im Heim und in der Schule durch den Heimleiter hat dazu geführt, dass wir später alle unselbstständig entlassen wurden. Der Heimleiter hat auch Klassenkameradinnen in der Schule nachgestellt und sie begrabscht. Aber alle haben geschwiegen oder nur verlegen gelacht. Als Klassenlehrer war er sehr engagiert, gerade für die religiösen Feiertage wurde gebastelt und auf dem Schulbasar verkauft. Er hat sich dadurch so ein Image aufgebaut, woran keiner kratzte. Er hat sich auch in der Schule überwiegend Problemkinder für den Missbrauch ausgesucht. Die Kinder hatten zu Hause keinen Halt.

Ich habe Hilfe bekommen in Institutionen, wo es um die Aufarbeitung ging, und ich habe Therapie gemacht zu dem Thema. Ich habe die Flashbacks verstanden und warum ich die geworden bin, die ich heute bin. Ich und ein weiteres Heimkind haben später Anzeige erstattet, sie aber wieder zurückgezogen. Uns wurde dazu geraten, da damals noch niemand mit den Perversionen der Heimleiter umgehen konnte und wir sonst als unglaubwürdig gelten würden. Ich hatte damals sehr viel Angst vor den Heimleitern, sie haben mir anonym Karten geschickt und ich erhielt anonyme Anrufe. Ich fühlte mich bedroht. Zwei kleine Kinder hatte ich zu erziehen und musste schauen, dass es weitergeht.

Heute würde ich die Anzeige vorbereiten und mir mehr Zeit lassen. Ich finde immer noch, dass solche Menschen angezeigt werden sollten. Es darf auch nicht sein, dass ein Heimleiter gleichzeitig der Klassenlehrer von heranwachsenden Jugendlichen sein darf. Er hat seine Stellung missbraucht. Wir hatten niemanden, dem wir uns anvertrauen konnten in der Schule. Er war überall und hatte das Sagen. Wenn Heimleiter mehrere leibliche Kinder haben, warum gibt man ihnen dann weitere zur Betreuung? Wenn ich plötzlich Auffälligkeiten habe, die ich vorher nicht hatte, wie Bettnässen, warum wird das vom Jugendamt nicht geprüft? Wieso muss ein Heim, was sich jahrelang finanziell bereichert an den Kindern und seinen Sadismus an ihnen auslebt, keinen Schadenersatz leisten? Wieso müssen Arbeitsamt, Rentenkasse und Krankenkasse für den Schaden aufkommen, den solche Institutionen verursacht haben? Ich bin heute nur bedingt arbeitsfähig trotz Therapie und lebe in einer finanziellen Unsicherheit. Ich habe immer wieder sexuelle Belästigung erlebt, da ich so aufwuchs.

Es geht nicht nur darum, dass Missbrauchte ihre Geschichte erzählen können. Was ist danach, insbesondere wenn der Missbrauch durch Heimleiter, Lehrer und Kirche erfolgte? Wenn Lehrer über Jahre ihre Macht missbrauchen und keiner hinsieht und dem Kind hilft, lernt man, dass es normal ist, mit wenig Respekt behandelt zu werden. Wenn Arbeitgeber ihre Macht missbrauchen, weil sie unfähig sind, wiederholt sich der Kreislauf. Mir persönlich hilft es am meisten, wenn ich sehe, dass heute eher hingeschaut wird bei Missbrauch, dass auch Missbrauch durch Frauen bekannter wird. Das tröstet mich. Meine Kinder melden mir zurück, dass sie gut finden, dass sie mit mir über alles reden können. Ich habe versucht, es besser zu machen und mache es auch besser. Das ist, was mir hilft nicht zu verzweifeln und weiterzumachen.