Der zweite Ehemann meiner Mutter war nicht nur ein Alkoholiker, sondern auch ein Kinderhasser, der mich oft wegen Kleinigkeiten schlug. Mitte der 1950er-Jahre brachte mich meine Mutter ins Kinderheim. Dort begannen für mich die zwei schlimmsten Jahre meines Lebens.

Das Kinderheim war zuvor ein Waisenhaus und wurde vom katholischen Schwesternorden „Unserer lieben Frau“ geleitet. Um wirtschaftlich besser bestehen zu können, wurden auch Kinder zahlender Eltern aufgenommen. Im Schlafsaal befand sich eine kleine Zelle, in der jede Nacht eine Nonne zwecks Aufsicht schlief. Nach ganz kurzer Zeit wurde mir von einer Nonne erklärt, dass ich ja ein sehr kluger Junge sei und daher ausgesucht wurde, Messdiener zu werden. Um in einer Messe dienen zu können, musste ich die Gebete in lateinischer Sprache lernen. Lehrmeister wurde der Pfarrer. Und damit fing alles Verbrecherische an.

Einmal in der Woche gingen wir zu zweit zum Pfarrhaus, um unsere Lernfortschritte vorzutragen. Der Pfarrer war eine zwiegespaltene Persönlichkeit. Er konnte freundlich und einfühlsam sein, aber auch ein Teufel in Menschengestalt. Nachdem er meinen Mitschüler abgehört hatte, schickte er ihn zum Heim zurück. Dann war ich an der Reihe. Am Anfang der Lehrstunden war er sehr freundlich zu mir, streichelte mir des Öfteren so ganz nebenbei über den Kopf oder nahm mich in den Arm um mich zu trösten, weil ich es ja nicht so einfach im Heim hätte. Wörtlich sagte er einmal: „Gott hat dich ausgesucht, damit du Messdiener wirst und auch mir sollst du dienen.“

Nach ein paar Lateinstunden im Pfarrhaus schloss er eines Tages plötzlich die Wohnzimmertür ab und befahl mir, mich auszuziehen. Ich wollte mich wehren. Das machte ihn so zornig, dass er einen Rohrstock nahm und mich damit schlug. Um diesen Schlägen aus dem Weg zu gehen, tat ich, was er von mir verlangte. Als ich nackt war, nahm er einen Fotoapparat und machte Bilder von mir. Dabei erklärte er mir, dass mein kleiner Penis noch größer werden würde, wenn ich älter werde und wachse. Er nahm ihn in seine Hände und rieb daran, wobei er immer heftiger atmete. Ich habe nach dieser Stunde viel geweint und mir vorgenommen, das Erlebte im Heim einer Schwester zu erzählen. Als ich anfing von den Schlägen durch den Pfarrer zu erzählen, wurde mir verboten, so etwas Schlimmes über den Pfarrer zu erzählen. Und wenn es so gewesen sei, hätte ich bestimmt einen Klaps verdient. Mir war klar, dass ich mit den Nonnen darüber nicht reden konnte, um Hilfe zu bekommen. Man würde mir nicht glauben.


Ich konnte keine menschliche Enge vertragen.

Jedes Mal nach der Lateinstunde wurden die sexuellen Handlungen schlimmer. Wenn ich mich körperlich sträubte, hielt er mich so lange sehr kräftig fest, bis ich aufgab. Ich ließ alles mit mir geschehen, in der Hoffnung, dass es bald vorbei sei. Er zeigte mir den Unterschied zwischen meinem kleinen und seinem großen Penis, indem wir nackt nebeneinanderstanden. Er zwang mich seinen Penis anzufassen, bis er einen Samenerguss bekam, den er dann mit einem Tuch auffing. Danach sagte er jedes Mal: „Das ist Gottes Segen, der durch mich zu dir kommt.“ Mein Widerstand gegen diesen Missbrauch war durch die Ignoranz der Schwestern und die immer wieder auftretenden Schläge durch den Pfarrer gebrochen. Ich hatte meine Fröhlichkeit und mein Kindsein verloren.

Als ich dann Messdiener war, fand drei Mal pro Woche in einer kleinen Kapelle früh morgens eine Messe mit einem alten Pfarrer statt, die von einigen Nonnen besucht wurde. Wenn Beerdigungen während der Woche stattfanden, mussten zwei Messdiener den Schulunterricht unterbrechen, um bei der Beerdigung dem Täter zu dienen. Ich wurde immer gerufen. Es war wie ein Ritual: Nach jeder Beerdigung schickte der Pfarrer den zweiten Messdiener zur Schule zurück. Mein Verbleib in der Sakristei wurde begründet mit der Mithilfe beim Reinigen der benutzten Teile. Aber es geschah immer das Gleiche: sexuelle Handlungen und Vergewaltigungen. Ich weiß noch wie heute, dass ich dann starke Schmerzen im Po hatte. Wenn der Zufall es wollte, dass über Wochen keine Beerdigungen stattfanden, bestellte der Pfarrer mich zur Mithilfe im Garten.

Nach dem Ende des siebten Schuljahres konnte ich dieses Martyrium nicht mehr ertragen. Ich packte ein paar Kleidungsstücke, nahm ein wenig gespartes Geld und rannte weg. Ich wollte nach Hause, obwohl ich wusste, dass ich bestimmt nicht willkommen war. Es war aber für mich die einzige Möglichkeit, dem Horror zu entkommen, und irgendwo musste ich doch wohnen. Per Anhalter erreichte ich nach zwanzig Stunden die Wohnung meiner Mutter und meines Stiefvaters.

Ja, ich wurde aufgenommen, aber schön verlief mein Leben danach nicht. Die Auswirkungen dieser zwei Jahre waren sehr schlimm. Im letzten halben Jahr im Heim fing ich unter Druck an zu stottern. Erst durch eine spätere Sprachbehandlung lernte ich wieder durchgängig zusammenhängend zu sprechen. Viel schlimmer war ein Schaden, der mein ganzes Leben beeinflusste: Ich konnte keine menschliche Enge vertragen. Sobald eine Person mir zu nahe kam, musste ich mich entziehen und einen größeren Abstand herstellen. Das galt im Allgemeinen für alle Personen. Später stellte ich fest, dass diese Aversion in erster Linie Männern galt. Dementsprechend hatte ich nie einen Freund, war immer ein Einzelgänger. Das zu erkennen, war schmerzlich für mich, ich gab mir auch immer wieder Mühe, daran etwas zu verändern, aber die seelischen Schäden der Vergangenheit ließen das nicht zu. Frauen gegenüber lernte ich dann später mit leichten kurzzeitigen Berührungen umzugehen. Daran zerbrach auch eine Ehe von mir. Über meine schlimme Zeit im Heim konnte ich nicht sprechen. Selbst eine Paartherapie konnte nicht helfen, und so erfolgte irgendwann die Scheidung.

Nachdem die Medien in letzter Zeit oft über sexuellen Missbrauch in der Kirche berichten, habe ich mich wieder mit dem Verdrängten beschäftigt und den Entschluss gefasst, meine Jahre des Missbrauchs zu erzählen. Heute muss man sich alles anhören und mir Glauben schenken. Ich bin nun glücklich mit meiner zweiten Frau. Sie kennt meine Probleme, setzt mich nie unter Druck und wir können Gemeinsamkeiten genießen.