Lassen Sie mich so beginnen: Es ist vorbei. Der Schrecken und die Not sind dort, wo sie hingehören: in der Vergangenheit. Die Folgen sind präsent. Ich lebe damit. Ich habe gelernt, Opfer zu sein, ohne Opfer zu sein.

In den 1960er-Jahren besuchte ich ein katholisches Jungengymnasium, das von Jesuiten geleitet wurde. Als ich 13 Jahre alt war, hatte ich mich während eines gemeinsamen Wochenendes unserer katholischen Jugendorganisation einigen Aktivitäten entzogen. Ich wollte nicht die Art von Mutproben mitmachen, bei denen Teilnehmende zum Gespött der anderen werden konnten. Zur Strafe wurde ich von dem leitenden Pater zum alleinigen Kartoffelschälen eingeteilt, während alle anderen draußen am See spielten. Nach einiger Zeit klopfte ich an die Tür seines Raumes und ging rein, um zu sagen, dass ich fertig sei. Er antwortete nicht gleich, sagte nur, „Mach die Tür zu“, sah mich an und sagte dann unvermittelt, ich solle seine Hose nicht so anstarren und dass es eine Sünde sei, jemanden so anzuschauen. Ich sei alt genug, das zu wissen, und müsse Buße tun. Er öffnete seine Hose und holte sein Ding raus, sagte, ich müsse ihn anfassen und führte meine Hand. Als er wollte, dass ich „ihn“ in den Mund nahm, habe ich ihn panisch losgelassen und bin rausgerannt zu den anderen, die immer noch draußen spielten. Ich konnte den anderen nichts sagen, war komplett blockiert. Beim gemeinsamen Abendessen war der Pater wie immer, als wäre nichts gewesen.

Zwei Wochen später war der Pater abends bei meinen Eltern zu Besuch, um mit ihnen zu reden, weil ich nicht gut in der Schule war. Er schaute mich im Flur lange an – heute vermute ich, dass er mir damit klarmachen wollte, wem im Zweifel geglaubt werden würde, und gleichzeitig so erfahren wollte, ob ich meinen Eltern etwas erzählt habe. Das Schlimmste an dem Vorfall damals war es, meinen Eltern nichts sagen zu können, denn sie hätten mir nicht geglaubt, weil ein Pater so etwas nicht macht – ich hätte als Lügner und Verleumder dagestanden. Schon Jahre zuvor hatte ich meinen Eltern erzählt, dass der Kaplan unserer Gemeinde beim Ministrantenunterricht seine Hand so unangenehm lang auf meinen nackten Oberschenkel gedrückt habe und gar nicht wieder wegnahm, was als Reaktion eben eine zusätzliche Bestrafung durch meine Eltern für „Lügengeschichten“ nach sich zog.

Auch meine jüngere Schwester ging auf ein katholisches Gymnasium. Anfang der 1970er-Jahre kam meine Schwester zu mir und sagte, dass ihre Klassenlehrerin mit mir reden wolle. Meine Schwester hatte mit ihr besprochen, dass das der beste Weg sei, sagte mir aber nicht den Grund, warum. Es war bizarr, ich traf mich heimlich mit der Klassenlehrerin meiner Schwester in ihrem Auto, das sie 200 Meter von unserer Wohnung abgestellt hatte, um nicht gesehen zu werden. Heute schäme ich mich dafür, weil ich mir so wichtig und erwachsen vorgekommen bin. Sie erzählte mir, dass mein Vater jeden Abend unter dem Vorwand, mit meiner Schwester zu beten, sexuell übergriffig war. Seit mindestens einem halben Jahr. Meine Mutter saß im Nebenraum und hat sich nie gewundert, dass mein Vater so lange bei meiner Schwester blieb und er die Tür zu ihrem Zimmer fest verschloss. Die Lehrerin beschwor mich, nichts meiner Mutter zu erzählen und auch nicht der Polizei, weil daran die Ehe meiner Eltern zerbrechen würde, das heilige Sakrament der Ehe. Diese Schuld sollte ich nicht auf mich nehmen. Ich musste ihr versprechen nichts zu sagen, denn sie habe mit meinem Vater vereinbart, dass er sich einer Therapie unterziehe, was er ihr versprochen habe.

Meine Mutter hat mich nie geschützt.

Aus meiner heutigen Sicht handelte die Lehrerin so, um das katholische Mädchengymnasium zu schützen, was durchaus einen Namen zu verlieren hatte. Mein Bruder und ich wohnten in einer anderen Wohnung auf dem gleichen Stockwerk, doch begegnete ich meiner Mutter regelmäßig, wenn wir zusammen gegessen haben. Es lässt sich kaum ausdrücken, was für Gefühle zu bewältigen waren, wenn wir als „Familie“ alle an einem Tisch zusammen gegessen haben.

Kurz danach bin ich weggezogen. Viele Jahre später ist meine Mutter mit meiner Schwester heimlich ausgezogen, als mein Vater bei der Arbeit war. Erst nachdem die Scheidung eingereicht worden war, erzählte meine Schwester von den Übergriffen. Meine Mutter bat die Lehrerin um eine Stellungnahme, den Brief mit der Antwort hat sie niemandem gezeigt.

Mein Vater starb Anfang der 1990er-Jahre, ich habe nicht getrauert. Sein Verhältnis zu mir zeigte sich in Sätzen wie „Als Sohn kann ich dich nicht akzeptieren, höchstens tolerieren“, in Handlungen wie verprügeln mit einem kleinen Weidenteppichklopfer, den er so stark schlug, dass meine Armbanduhr zerschlagen wurde, als ich ihm schützend meinen Arm entgegenhielt. Manchmal hatte ich blutige Striemen, meine Mutter hat mich nie geschützt.

Ich hatte zwei Hörstürze mit bis heute gebliebenem Tinnitus. Aufgrund der Folgeereignisse war ich insgesamt 40 Wochen in psychiatrischen Kliniken. Weitere Details auslassend kann ich sagen, dass ich heute mit allem so umgehen kann, dass eine gewisse Grundzufriedenheit, eine Art freundlicher Waffenstillstand zwischen mir und dem, was wir Leben nennen, mein Dasein bestimmt. Ich habe mir eine ambulante Betreuung eingerichtet, komme ohne Medikamente aus und erhalte Grundsicherung zur Rente. Wichtig ist: Ich komme klar. Und habe, frei nach Kant, den Mut, mich meines Verstandes zu bedienen. Ich möchte mit Lichtenberg enden: „Ob es besser wird, wenn es anders wird, weiß ich nicht. Dass es anders werden muss, damit es besser werden kann, weiß ich genau.“