Nach vielen Jahren habe ich mich entschlossen, als Betroffener sexuelle Übergriffe zu melden. Ich bin seit 20 Jahren glücklich verheiratet, habe zwei Kinder und bin Chefarzt. Dennoch leide ich seit meinem 20. Lebensjahr an immer wiederkehrenden, teils stark ausgeprägten Depressionen und bin daher seither fast durchgängig in psychologischer Beratung.

Ende der 1980er-Jahre, Anfang der 1990er-Jahre bin ich regelmäßig Opfer sexueller Übergriffe eines Benediktinerpaters geworden. Dies geschah an Wochenenden und in den Schulferien sowohl bei den Bergtouren und Wanderwochen als auch in der Abtei. Paradoxerweise waren mir die Abtei, die Mitbrüder, die angesiedelte Jugendarbeit und vor allem die vielen tollen Menschen, die ich dort kennenlernen durfte, trotz der vielen Übergriffe als Jugendlicher irgendwie eine zweite Heimat geworden.

Der erste Vorfall erfolgte in der ersten Nacht der sogenannten Wanderwoche Ende der 1980er-Jahre. Alle weiteren erfolgten nach dem exakt gleichen Muster. Es waren „Besuche“ während ich schlief oder zu schlafen vorgab, in denen er in meiner Hose meine Genitalien anfasste, streichelte und versuchte, Erregungen auszulösen. Gleichfalls kam es zu Manipulationen am Anus, teils mit Hineinführen von einem oder mehreren Fingern. Warum ich mich damals nie gemeldet habe, ist mir bis heute unklar. Ich war sicherlich ein sehr schüchterner und unsicherer junger Mensch, dem zudem ein unterstützendes Familienumfeld fehlte. Ich habe es auch nie geschafft, den Pater zu den Vorfällen anzusprechen oder mich zu wehren, obwohl es mir ab dem ersten Übergriff stets ekelhaft und abstoßend vorkam.

Mich persönlich hat diese enge Vernetzung von Staatsanwaltschaft, Freundeskreis und katholischen Institutionen irritiert.

Von ehemaligen Wanderwochen- und Bergtourteilnehmern weiß ich auch, dass ich nicht der einzige Betroffene war. Erst nach einigen Jahren, als ich auch rund um die Abtei und in der Jugendarbeit offen zu eigenen Freundinnen und damit zu meiner Heterosexualität stehen konnte, wurde ich vom Pater geschnitten und bei jeder Gelegenheit aufgrund von Kleinigkeiten schlechtgemacht, es wurde über mich gelästert und er versuchte, mich zum Außenseiter in den Jugendgruppen zu machen. Dies gelang auch deshalb, weil ich mich in der von ihm in der „Männergesellschaft“ der Bergtouren geschürten sexistischen Atmosphäre – mit häufigen verbalen Ausfälligkeiten gegenüber weiblichen Bedienungen auf Berghütten – klar gegen dieses Verhalten gestellt hatte. Die Isolation und schlechte Nachrede vor meinen Bergkameraden und anderen Jugendlichen war sehr schmerzhaft für mich.

Als über die Missbrauchsfälle in der Presse berichtet wurde, habe ich den damaligen Abt sowie die für eine Sammelklage zuständige Staatsanwältin informiert. Die Taten waren aber aufgrund der damals geltenden Verjährungsfristen nicht mehr „relevant“. Nachdem ich bei der Justizbehörde angerufen hatte, wurde ich ungefragt von einem Vertreter des sogenannten Freundeskreises der Abtei angerufen, ob ich Hilfe für Psychotherapie bräuchte. Mich persönlich hat diese enge Vernetzung von Staatsanwaltschaft, Freundeskreis und katholischen Institutionen irritiert. Auch die Tatsache, dass in der Lokalpresse nicht ausgiebig darüber berichtet wurde, sagt mir viel. Zu eng sind die Verbindungen zwischen der Abtei und den wirtschaftlichen und öffentlichen Eliten vor Ort. Es darf nicht sein, was nicht sein darf. Schon Mitte der 1980er-Jahre wusste die Leitung des Gymnasiums der Benediktiner von den Umtrieben des Paters im Umfeld der Schule durch Liebesbriefe an Schüler. Dass er weiterhin Gastpater und für die Jugendarbeit zuständig bleiben durfte, finde ich skandalös.

Wie eingangs erwähnt, hat mein Leben einen guten Verlauf genommen, auch wenn die seither zu mir gehörenden Depressionen das Leben sehr viel anstrengender machen, als es sein müsste, und mir auch einen großen Teil Unbeschwertheit und unbefangene Freude genommen haben. Leider habe ich mittlerweile zur Kirche, ihren Strukturen und offiziellen Vertretern gegenüber eine große Distanz aufgebaut, auch wenn die Kirche, das Erleben der Liturgie und das gemeinsame Engagement in Jugendarbeit und „Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung“ über sehr viele Jahre maßgeblich mein Leben bestimmt haben. Ich sehne mich tatsächlich immer noch nach dem „Hafen Kirche“ als Ort des Erlebens von Gemeinsamkeit, Jenseitsverbundenheit und Sinn. Noch habe ich die Hoffnung nicht aufgegeben, mich dort irgendwann einmal wiederzufinden.