Ich bin im Alter von vier Jahren Opfer eines sexuellen Übergriffes geworden. Als Kind habe ich nie mit jemandem darüber gesprochen. Nicht mit meinen Eltern und auch nicht mit Vertrauenspersonen. Ich wollte es viele Jahre hinweg mit mir selbst ausmachen.

Anfang der 2000er waren meine Familie und ich mit Freunden meiner Mutter im Urlaub im Ausland. Es war Sommer. Wir waren dort viele Kinder und spielten auf dem Hof und im Garten. Nun trug es sich zu, dass der Vater von Mamas Freundin mich in seine Werkstatt mitnahm. Ich erinnere mich an eine dunkle Ecke. Irgendwie stand der große Mann vor mir und bückte sich vor mich hin, hielt mich fest und berührte mich im Intimbereich. Ganz schrecklich war für mich sein hämisches Grinsen, wie er mich immer wieder ansah, grinste und mit einem Kopfnicken fragte: „Ok?“

Ich weiß nicht mehr, wie ich aus der Werkstatt herausgekommen bin. Ich war vier Jahre, ich konnte nicht einordnen, was da geschah. Ich weiß, dass ich nie wollte, dass irgendwer davon erfuhr. Der Typ ist ebenfalls Mitglied in der Freikirche, zu der auch meine Eltern gehören. Und das Abartigste, er hatte innerhalb der Gemeinde als Gemeindeleiter eine Vorbildfunktion inne. Auch ich habe mich im Alter von 15 Jahren ganz bewusst für die Erwachsenentaufe entschieden und zeigte damit öffentlich, dass ich im Glauben an Gott Halt finde.

Als Kind hatte ich Angst allein im Dunkeln zu sein. Wenn meine Mama nach der Abendandacht das Zimmer verließ, bestand ich beharrlich darauf, dass die Tür offen blieb und Licht im Flur an war. Wenn Mama in der Küche werkelte, wollte ich sie hören, damit ich mich sicher fühlte. In meinem Bett mussten viele Kuscheltiere sein, unter anderem ein großer Dalmatinerplüschhund. Dieser lag zwischen mir und der Bettkante, ich lag ganz an der Wand. In dieser imaginären Burg war ich geschützt. In meinem Kopf spielte sich fast jeden Abend eine Geschichte ab. Ich war eine Prinzessin, die sehr bodenständig war, das Leben genoss, jedoch wollte der König seine Prinzessin vor den großen Fürsten schützen, die sie alle heiraten wollten. Deshalb war die Prinzessin in einem hohen Turmzimmer eingesperrt, dort versteckte sie sich in einem großen Bett und durfte nicht raus. Später stellte ich mir oft die Frage, warum ich mich in diese Geschichten flüchtete.

Ich krieg' das schon hin, dachte ich.

Ich wollte das, was mir passiert ist, nicht wahrhaben. Wollte vergessen. Wollte die Person nie wiedersehen. An Silvester feierten meine Familie und die Freunde oft zusammen. Mamas Freundin skypte dann mit ihren Eltern. Ich weiß, dass ich jedes Mal das Weite suchte, wenn die Verbindung sich herstellte. Ich wollte nichts hören, nicht die fremde Sprache, nicht diese Stimme.

Warum habe ich nichts gesagt? Ich habe mich geschämt und wollte die Idylle nicht zerstören. Außerdem dachte ich, mir hört eh keiner zu. Später dachte ich, dass ist jetzt schon so lange her, das glaubt man mir nicht. Doch ich wusste, dass da etwas mit mir passiert ist, denn immer, wenn ich im Fernsehen Nachrichten von Missbrauch hörte, zog sich in mir etwas zusammen. Ich schwieg trotzdem weiter. Ich krieg das schon hin, dachte ich.

Nach der Schule wollte ich ein Freiwilliges Soziales Jahr im Ausland absolvieren. Mit 18 Jahren arbeitete ich in einem wundervollen Projekt, doch ausgerechnet an der Grenze zu dem Land, wo es passiert war. Nach drei Monaten stürzte meine hochgebaute doppelwandige Mauer ein. Das äußerte sich in einer Psychose, die so schlimm wurde, dass ich lebensbedrohlich gefährdet war und nach Deutschland ausgeflogen wurde. Ich kam in ein Krankenhaus und verstand gar nichts mehr. Was sollte ich hier? Ich habe doch einen Auftrag in meinem Projekt.

Es dauerte lange, bis ich akzeptierte, dass ich schlimm bedroht war und die Klinik als Chance nutzen konnte, meine Vergangenheit zu bewältigen und zum ersten Mal von dem Missbrauch zu erzählen. In der Klinik wurde ich gefragt, ob ich rechtliche Schritte gehen möchte. Das verneinte ich. Der Typ wohnt im Ausland und jetzt war eine Verfolgung eh schwer, da so viele Jahre dazwischen lagen. Nach dem Klinikaufenthalt absolvierte ich nochmal ein Freiwilliges Soziales Jahr auf einem Pferdehof im Inland. In dem Jahr fand ich wieder zurück zu meinem Selbstvertrauen und konnte danach meine Ausbildung beginnen.

Mittlerweile kennt meine Familie die Geschichte. Ich habe damit abgeschlossen. Ich kann offen auf Menschen zugehen, auch Jungs kennenlernen und ganz vorsichtig mein Herz öffnen. Ich kann meine Gefühle besser einordnen. Ich bin jetzt eine optimistische junge fröhliche Frau, die ihren Weg geht und immer das Positive und Gute in den Menschen finden möchte. Mein persönlicher Glaube hat mich die ganzen Jahre hindurch begleitet und geprägt. Es können noch so viele Sicherheitsvorkehrungen getroffen werden, irgendjemand fällt leider immer durchs Raster. Aber ich mache niemandem einen Vorwurf. So wie es war, war es und ist nicht zu ändern.