Ich bin Polizeibeamter und wurde als Kind von einem Priester in einer Klosterschule misshandelt und missbraucht. Als ich erfuhr, dass Zeugen zu den Geschehnissen gesucht wurden, meldete ich mich bei der Staatsanwaltschaft mit folgenden Worten: „Ich bin Polizeibeamter und kann zu den Vorkommnissen etwas sagen!“ Erst im zweiten Schritt sagte ich der aufnehmenden Beamtin am Telefon, dass ich ebenfalls Opfer sei. Ich versteckte mich zunächst hinter meinem Beruf, weil ich mir dachte, dass mir als Polizeibeamter mehr geglaubt würde, als wenn ich mich als Opfer melde.

Anfang der 1970er-Jahre begann für mich als kleiner Bub mit zehn Jahren das erste von vier Schuljahren in der Klosterschule. Bei dem Übertrittsgespräch mit dem Leiter der Klosterschule teilte mir dieser mit, dass es ein Privileg sei, diese Schule besuchen zu dürfen, da nur wenige Plätze zur Verfügung stünden. Nachdem ich meinen Schlafplatz in einem Raum mit elf Betten bezogen hatte und sich meine Eltern von mir verabschiedet hatten, war ich vor Heimweh in Tränen aufgelöst und weinte sehr.

Am nächsten Morgen nach dem Wecken betrat ich mit den anderen Mitschülern den Waschraum. Wie aus heiterem Himmel trafen mich drei schallende Ohrfeigen. So lernte ich den Internatsleiter kennen. Am Abend desselben Tages hatte er die Aufsicht über die Schüler. Bei einem Kontrollgang kam er zu mir ans Bett. Zunächst hatte ich Angst, weil ich wieder mit Schlägen rechnete. Doch er streichelte mir mit der Hand über den Kopf und versuchte mich zu trösten. In den darauffolgenden Nächten kam er oft zu mir ans Bett. Obwohl ich kaum noch weinte, war ich in vielen Nächten der Schüler, dem er Trost spendete. Er fuhr mit den Händen über meine Wangen und begann mich im Gesicht zu küssen. Später erweiterte er seine Küsse auf meinen Mund bis letztendlich hin zu Zungenküssen. Er ließ mir von seiner Seite große Zuneigung, Geborgenheit, ja, Liebe zukommen. Ich war verwirrt und unsicher, was hier geschah, weil mir diese Art von Zuneigung völlig fremd und unbekannt war. Ich war doch ein zehnjähriger Bub. Mit fortlaufender Zeit ging er immer weiter mit seinen Liebkosungen, seinen Zungenküssen folgten Berührungen an meinem Körper und dann auch an meinem Penis. Er ließ mich wissen, dass er mich auf dem Weg zum Mannwerden begleiten würde und ich so den anderen etwas voraushätte. Diese Vorgehensweise steigerte sich in den darauffolgenden Jahren. In dieser Zeit wünschte ich mir, dass er von mir abließe und sehnte mich dann doch wieder nach Zuneigung und Geborgenheit, ja, einfach danach geliebt zu werden.


Er konnte einem Menschen allein mit seinem Blick Furcht und Angst einflößen.

Eines Tages musste ich erkennen, dass er einem weiteren Schüler seine Zuneigung schenkte. Ich wollte ihm einen kleinen Löwen als Geschenk überreichen. Als er mich hereinbat, sah ich einen weiteren Jungen neben ihm sitzen, er hielt diesen im Arm. Ich war geschockt, gab ihm das Geschenk und verließ fluchtartig sein Zimmer. Jetzt wusste ich, dass es mindestens einen weiteren „Auserwählten“ gab. Eines Tages nahm er auch mich mit auf sein Zimmer. Er legte sich auf das Sofa. Ich musste mich zu ihm legen. Er teilte mir mit, dass er mir weiterhin seine Zuneigung schenken und seine Hand über mich halten werde, wenn ich seinem Wunsch der oralen Befriedigung nachkomme. Da mich damals großer Ekel überkam, weigerte ich mich. Er zog sich wortlos an und schickte mich aus seinem Zimmer. Ich stand alleine da und tat mich schwer, mit dieser Situation klarzukommen. Wem konnte ich mich anvertrauen? Würde mir jemand glauben? Er war als Priester, Präfekt und Lehrer eine Vertrauens- und Respektsperson, die in der damaligen Gesellschaft höchstes Ansehen genoss und war zum damaligen Zeitpunkt unantastbar. Er konnte einem Menschen allein mit seinem Blick Furcht und Angst einflößen, er löste Streit und Konflikte mit harter Hand und schlug zum Teil zu, bis Blut floss. Jeder Mitschüler wurde Zeuge seiner Misshandlungen. Er unterband jeglichen Widerspruch, nur seine Meinung zählte. Wieso akzeptierte er hier mein Nein ohne Widerworte?

In den darauffolgenden Wochen ließ er von mir ab und verlor das Interesse. Ich spürte seine Ablehnung. Ich war in meinen Gedanken hin- und hergerissen und stand nach wie vor allein da. Mir fiel es schwer, dies alles einzuordnen und zu verstehen. Mein damaliges Nein zeigte mir, dass mir dadurch Zuneigung und Liebe entzogen wurde. Ich kam mir ausgeschlossen und ungeliebt vor. Heute denke ich, dass mir durch mein damaliges Nein weitere schmerzhafte Erfahrungen erspart blieben.

Meine schulischen Leistungen ließen nach und ich fasste den Entschluss, die Klosterschule zu verlassen. Dies gelang mir dann auch und ich versuchte, die Erlebnisse zu vergessen. In der Folgezeit hatte ich Angst und wenig Vertrauen, weil ich weitere Erlebnisse dieser Art fürchtete und diese unbedingt vermeiden wollte. Ich begann den Starken zu spielen. Ich legte mir eine gewisse Härte und Unnahbarkeit zu, die ich mir beim Pater abgeschaut hatte. So konnte ich zumindest mein fehlendes Selbstvertrauen kaschieren und Grenzen setzen, ja, ich wollte so auch verhindern, dass ich verletzt wurde. Auftretende Konflikte zwischen Mitschülern und mir löste ich zum Teil mit Handgreiflichkeiten. Ich brauchte fast ein halbes Jahr, bis ich begriff, dass es auf der Realschule viel gesitteter ablief als im Internat der Klosterschule. Die Lehrer waren streng, aber immer gesprächsbereit und offen. Sie nahmen sich Zeit für die Schüler und halfen mit Rat und Tat ohne irgendwelche Gegenleistungen. Auch Misshandlungen gegen Schüler waren hier seitens der Lehrer außen vor, dennoch waren die Lehrer Respektspersonen und Autoritäten. Mir wurde vor Augen geführt, dass es auch ohne Misshandlung möglich ist, Konflikte zu bewältigen, Meinungsverschiedenheiten zu besprechen und Anordnungen durchzusetzen. Ich machte schulisch einen Wandel durch und kam dort zu einem sehr guten Abschluss.

Nachdem die schlimmen Taten des Priesters in den 2000er-Jahren publik wurden und ich an der Aufklärung mithalf, erkrankte ich schwer und sah ein, dass ich professionelle Hilfe brauchte. Ab diesem Zeitpunkt begann ich, die schrecklichen Erlebnisse in meinem Leben zu beleuchten und aufzuarbeiten. Ich lernte, mit den Erlebnissen umzugehen und zu akzeptieren, dass diese Dinge zu meinem Leben dazugehören. In der Therapie fand ich auch heraus, dass im Schweigen noch immer eine Verbindung zum Pater bestand. Aus diesem Grunde wollte ich das beiderseitige Schweigen brechen. Nach einer Kontaktaufnahme und einem Briefwechsel suchte ich ihn mit meiner Therapeutin auf. Er war 40 Jahre älter und ergraut, aber ich erkannte ihn sofort wieder. Ich wollte mit diesem Gespräch das Schweigen durchbrechen, um Klarheit, meine Eigenständigkeit und Distanz zu den damaligen Geschehnissen zu finden und um vor allem den Weg aus der Opferrolle zu finden. Er gab zu, dass er große Schuld auf sich geladen hatte und leugnete seine Taten von damals nicht. Er bat mich um Entschuldigung und ich nahm diese Entschuldigung tatsächlich an.

Heute bin ich aufgrund der therapeutischen Aufarbeitung stabil, glücklich und soweit zufrieden. Mein Umfeld hat sich komplett geändert und ich lebe im Hier und Jetzt. Mit meiner Niederschrift möchte ich helfen, dass die Gesellschaft wachgerüttelt wird und dadurch mehr Aufmerksamkeit im Umgang mit Kindern und Schutzbefohlenen an den Tag gelegt und somit zukünftig Missbrauch verhindert wird.