Kurz nach der Erstkommunion in den 1960er-Jahren wurde ich aktiver Messdiener in unserer Kirchengemeinde. Nach dem Tod meines Vaters entstand ein engerer Kontakt zum damaligen Kaplan der Kirchengemeinde. Ich diente häufig bei Gottesdiensten, sonntags bis zu drei Messen mit Nachmittagsandacht. Es ergaben sich regelmäßige Besuche in der Wohnung des Kaplans mit dem Anlass, dass er mir das Schachspielen beibrachte.

Nahezu täglich suchte ich ihn nach der Mittagszeit auf, wo dann auch Schach gespielt wurde. Er nutzte den mir entstandenen Verlust meines Vaters aus, um sich durch Übernahme der Vaterrolle einen nahen emotionalen Zugang zu mir zu verschaffen. Diese täglichen Besuche in seiner Wohnung gingen über circa 1,5 Jahre. In dieser Zeit bin ich vielfach sexuell missbraucht worden.

Die Erinnerungen an den Missbrauch waren lange Zeit nahezu komplett verdrängt. Erst seit einigen Jahren kann ich die manifesten seelischen Störungen und Beeinträchtigungen meines Alltags deutlich mit dem erfolgten Missbrauch in Verbindung bringen. Insbesondere quälen mich in letzter Zeit vermehrt aufsteigende Bilder: Der Täter fasst mir in die Hose. Er ist in einen Teppich eingewickelt und ist erregt. Er steht vor mir, nur mit einem weißen Oberhemd bekleidet, nackte Beine. Das bedrohliche Bild eines verdunkelten Zimmers in seinem Haus.

Neben den regelmäßigen täglichen Begegnungen in seiner Wohnung nahm mich der Täter einige Male mit zur Familie seiner Schwester. Es gab auch Ausflüge ans Meer oder zum Skifahren, zum Teil mit Übernachtung. Im von ihm erteilten Religionsunterricht war mir bewusst, dass ich eine spezielle persönliche Beziehung zu ihm hatte, anders als meine Mitschüler. Von anderen Betroffenen weiß ich, dass auch sie über lange Zeit nahezu täglichen Kontakt zum Täter hatten und in seiner Wohnung vielfach missbraucht wurden und dass er sie zum Teil an dieselben Orte wie mich geführt hat. Eine enge Bindung, die der Täter zu mir aufbaute, hatte er schon zu früheren Missbrauchsopfern aufgebaut.

Auf Vermittlung des Täters hin wechselte ich mit 14 Jahren in ein Internat. Diese Vermittlung fand in einem persönlichen Gespräch des Täters mit dem damaligen Internatsleiter statt, währenddessen ich zu einer Befragung in den Raum gerufen wurde. Die aktive Rolle des Täters zur Vermittlung an das Internat scheint ihren Sinn darin gehabt zu haben, dass ich entweder durch meine Pubertät nicht mehr seinen Vorlieben entsprach oder dass die täglichen, regelmäßigen Begegnungen mit mir in der Kleinstadt langsam zu einem für ihn gefährlichen öffentlichen Thema wurden. Jedenfalls hat er weiterhin mir bekannte Jungen regelmäßig missbraucht. Mindestens einen ließ er zur Mittagsschlafzeit meist heimlich durch einen Hintereingang und über den Balkon in sein Schlafzimmer zu sich kommen.

Ich weiß, dass der Täter von der Kirche gedeckt worden ist.

Als ich später im Alter von 20 Jahren in der gleichen Stadt studierte, in der er wohnte, bat ich ihn, mich übergangsweise bei ihm wohnen zu lassen. Ich sagte mir in Gedanken, dass er mir noch etwas schuldete, wobei meine Emotionen hinsichtlich des Missbrauchs damals völlig verdrängt waren. So nahm er mich bereitwillig auf, und ich wohnte mehrere Wochen mit ihm zusammen in seiner Wohnung, bis ich ein Zimmer im Studentenwohnheim mieten konnte. Wenige Tage danach setzten bei mir zum ersten Mal starke Ängste und immer wiederkehrende Gedanken mit destruktivem Inhalt ein, die mir nicht erklärlich waren und aus heiterem Himmel zu kommen schienen. Ich erlebte starke irrationale Ängste, hatte immer wieder die Befürchtung, die Kontrolle über meinen Körper und insbesondere über meinen Verstand zu verlieren. Ich traute mich ohne Sedativa nicht mehr das Studentenwohnheim zu verlassen, manchmal saß ich mehrere Tage dort fest. Bei meinen damaligen Freunden und Bekannten, denen ich von meinen Symptomen erzählte, stieß ich auf Unverständnis. Erst heute sehe ich den Zusammenhang, dass der neuerliche enge räumliche Kontakt mit dem Täter unbewusst bei mir den alten Missbrauch triggerte und mich massiv retraumatisierte. Irgendwie schaffte ich dennoch den Abschluss. Doch den Beruf des Gymnasiallehrers auszuüben, traute ich mir damals nicht zu. Ich begab mich in aufeinanderfolgende Therapien, ging in Selbsthilfegruppen und hatte mehrere Klinikaufenthalte.

In den 1990er-Jahren begann ich die Ausübung des Lehrerberufs an einer Grundschule. Fast zwei Jahrzehnte konnte ich ohne Therapie und Medikamente den Beruf des Lehrers ausüben, allerdings immer wieder mit Angstzuständen und Phasen seelischen Tiefs. Nach einem Burnout und einem weiteren Klinikaufenthalt wurde zum ersten Mal der Zusammenhang zwischen dem Missbrauch und meinen seelischen Problemen deutlich. Seit dieser Zeit arbeite ich den Missbrauch auf. Langsam nehmen die langjährigen Ängste ab. So war es mir im Vorjahr zum ersten Mal möglich, ein Flugzeug zu besteigen und an einem weiter entfernten Ort Urlaub zu machen. Nach dem letzten Klinikaufenthalt ist die Wiedereingliederung an einem Gymnasium trotz gegenteiliger Prognose des medizinischen Dienstes gelungen.

Ich weiß, dass der Täter von der Kirche gedeckt worden ist. So musste er die Gemeinde verlassen, nachdem ein Missbrauch bekannt wurde, und er wurde versetzt. Dort hatte er schnell wieder eine Familie mit Jungen zwischen acht und 14 Jahren gefunden, zu der er engen Kontakt hatte. Es ist sicher, dass die Kirchenleitung Kenntnis von seinem pädokriminellen Verhalten über lange Zeiträume hatte und durch die Versetzung weiteren Missbrauchshandlungen Vorschub leistete, wenn seine Taten in einer Kirchengemeinde aufgedeckt worden waren. Dies macht mich immer wieder wütend und ohnmächtig. Den Täter bei seinem 50-jährigen Priesterjubiläum von Kindern umgeben abgebildet zu sehen, die ihn beschenken, dabei zu lesen, dass er bis zum Schluss seines Lebens Kindern das Schachspielen beigebracht hat, ruft bei mir die wohl nicht unwahrscheinliche Vorstellung hervor, dass er bis zu seinem Tod nie aufgehört hat. Es ist für mich nicht fassbar, dass trotz mehrfach bekannt gewordenem Missbrauch seitens des Täters die zuständigen Personen der Kirchenleitung anscheinend nur die Vertuschung der Verbrechen, nicht aber den Schutz weiterer Opfer im Sinn hatten. Ich könnte laut schreien, wenn ich daran denke, wie man diesen Täter nicht nur juristisch nicht belangte, sondern ihn auch noch weiter in einem geschützten Raum gewähren ließ, obwohl man genau von seinen Schandtaten wusste: Wer weiß, wie viele Leben von jungen Menschen er an den Rand der Zerstörung brachte?