Ich war in den 1980er-Jahren Internatsschüler in einer Einrichtung der Maristenbrüder und dort von sexuellen Übergriffen betroffen.

In der 7. Klasse war ich Schulverweigerer, und gemeinsam mit meiner Mutter entschied ich die Klasse im Internat zu wiederholen. Das Internat hat viel Gutes für mich getan: Der geregelte Tagesablauf, Erfolgserlebnisse in der Schule, Akzeptanz in der Gemeinschaft haben mich aus einer sehr schwierigen persönlichen Situation heraus wieder auf die Bahn gebracht. Eine wichtige Rolle spielte dabei ein Erzieher, der mit viel Einsatz und Verständnis für mich schnell zu einer unzweifelhaften Vertrauensperson wurde.

Abends gab es Besprechungen im Präfektenzimmer. Nach dem Schlafengehen rief der Erzieher immer wieder einzelne Schüler in sein Zimmer. Jeder der Schüler wurde mindestens einmal zu ihm gerufen. Dabei wurde hauptsächlich über die persönliche Entwicklung und religiöse Themen gesprochen. Der Schüler trug einen Schlafanzug, der Erzieher die Ordenstracht, den Talar. Ein Ritual, das dabei wiederholt durchgeführt wurde, war die Fußwaschung. Der Erzieher wäscht die Füße des Schülers in einer Schüssel und erklärt dies als Akt der Demut und des Dienens. Einmal führte er an mir eine sogenannte Vertrauensprüfung durch: Ich sollte mich vor ihn hinstellen. Der Erzieher sagte mir, ich könne jederzeit „Stopp“ sagen. Er kniete sich vor mich hin. Dann begann er, mir die Schlafanzughose langsam herunterzuziehen. Ich ließ dies zunächst geschehen, doch bevor mein Geschlechtsteil zum Vorschein kam, sagte ich „Stopp“. Der Erzieher hörte dann auf. Der subtile Druck in dieser Situation war: Je mehr Vertrauen ich zu ihm hätte, umso weiter würde ich zulassen, dass er die Schlafanzughose herunterzieht. Es stehe mir zwar zu ihn zu stoppen, doch dies wäre dann zugleich auch ein Vertrauensbruch.  

Wiederholt legte er seine Ansichten zu Homosexualität dar. Nach seiner Lehre sei die Mehrzahl der Menschen homosexuell oder bisexuell veranlagt. Das bedeutete für mich: Auch sexuelle Handlungen und Andeutungen des Erziehers mir gegenüber seien völlig normal und anerkannt. Fühlte ich mich dabei nicht wohl, dann war das allein meine Schuld. Dabei erkannte ich damals nicht: Erstens, dass hier ein Erwachsener einem Jugendlichen in einem Abhängigkeitsverhältnis gegenübersteht; zweitens, dass die Frage, ob ich mich wohl fühle oder nicht, von keiner Statistik beantwortet werden kann. So hebelte diese Darstellung meine Abwehr gegen seine Übergriffe aus.  


Opfer von sexuellen Übergriffen zu sein bewirkt starke
Schuldgefühle und Orientierungslosigkeit.

Ende der 1980er-Jahre leitete der Erzieher eine Wochenendfahrt. Es waren mehr Jugendliche dabei als gewöhnlich, sodass die üblichen Schlafgelegenheiten nicht ausreichten. In einem der Schlafräume wurde ein Zusatzbett für zwei Personen aufgestellt. Das Bett stand in der Mitte des Zimmers, an den Wänden außen herum waren Stockbetten, die alle voll belegt waren. Auf dem Zusatzbett nächtigte ich, neben mir der Erzieher. Ich trug einen Schlafanzug. Nachts begann er mich unter dem Schlafanzug zu berühren, zunächst an der Brust, dann immer weiter herunter. Mir war die Situation schrecklich unangenehm. Zusätzlich hatte ich Angst davor, dass einer der anderen Jugendlichen etwas davon mitbekam. Als seine Hand meinen Bauch erreichte, begann ich stark zu zittern. Daraufhin ließ er von mir ab. Ein anderer Jugendlicher sprach mich später an und sagte etwas in der Art: "Bei Euch ging's ja ganz schön rund letzte Nacht". Ich war so außerordentlich verstört, dass ich das gesamte Wochenende kein Wort mehr gesprochen und mich völlig vor den anderen Jugendlichen und den Erziehern zurückgezogen habe.

Mehrmals nahm ich an Arbeitsexerzitien im Gründungshaus des Ordens teil. Die Aufenthalte waren geprägt von harter körperlicher Arbeit, Gebet und Erholung. Nach der Arbeit kamen alle verschwitzt und müde zurück und wollten zunächst duschen. Der Erzieher forderte die Gruppe in einer Ansprache auf, nicht einzeln zu duschen, sondern die Kabine mit mehreren Jugendlichen zu teilen. Er sagte in dieser Ansprache auch, dass eine Erektion eine ganz natürliche Sache sei und dass man sich nicht weiter darum kümmern solle. Er selbst nahm ebenfalls an dem Gruppenduschen teil, duschte also mit mehreren Jugendlichen in einer engen Duschkabine.

Opfer von sexuellen Übergriffen zu sein bewirkt starke Schuldgefühle und Orientierungslosigkeit, insbesondere wenn sie in einer Atmosphäre der Angst und der Abhängigkeit stattfinden. Erst heute, selbst Familienvater, materiell und psychisch stabil, bin ich in der Lage, die Ereignisse einzuordnen und zu bewerten. Für mich ist die Aufarbeitung der Vorfälle abgeschlossen und ich erwarte nichts. Der Täter ist mir gleichgültig. Allerdings hoffe ich, dass durch die öffentliche Diskussion der Saatboden für ähnliche sexuelle Übergriffe in Klosterschulen und anderen Organisationen ausgetrocknet wird. Ich weiß wie schwer es ist, sich dem Thema zu stellen. Hoffentlich gelingt es und Ihre Initiative hilft betroffenen Kindern und Jugendlichen die Täter zu benennen und die Taten ans Licht zu bringen. Und zwar nicht erst Jahrzehnte später.