Jetzt, nach so vielen Jahren der öffentlichen Diskussionen, der Schuldbekenntnisse und der Relativierungen, hat sich herausgestellt, dass das Tabu „Sexuelle Gewalt an Kindern“ immer noch mächtig wirkt und die Aufarbeitung und Verhinderung wohl eine Generationenaufgabe ist.

Als jemand mit einem ungewöhnlichen Lebensweg, durchaus in gesunden Bahnen, musste ich mit 59 Jahren feststellen, dass ich wie viele andere Opfer von sexueller Gewalt bin. Lange Jahre erschienen mir die nächtlichen Panikattacken, das Misstrauen gegenüber anderen Menschen, die Angst vor neuen Situationen und meine Unfähigkeit zwischen Nähe und Distanz zu unterscheiden als durchaus normal. Normal, bis meine Sprachlosigkeit und die Düsternis meiner Stimmung mich endlich gezwungen haben eine Therapie zu beginnen.

Waren es ursprünglich die Gewalterfahrungen als Kind und Jugendlicher, die mich belasteten? Es stellte sich jedoch schnell heraus, dass da noch mehr geschehen sein musste. Mit elf Jahren, 300 Kilometer von zu Hause entfernt in einer Klosterschule, in der die Kinder und Jugendlichen einem brutalen Regiment unterstanden, wurde ich in der Kirche, nachts und nur mit einem Messdienergewand bekleidet, vergewaltigt. Wer der Täter war, weiß ich bis heute nicht.

Warum vergisst man ein solch gravierendes Ereignis so vollständig, dass die wiederkehrende Erinnerung unglaubhaft und fremd wirkt? Das Perfide an dem, was mir in der Klosterschule in den 1960er-Jahren geschehen ist: Wie soll ein frommes Kind damit umgehen, wenn ihm im Beichtstuhl dann nach dem Ereignis gesagt wird, dass das „Ritual“ ein Beichtgeheimnis bleiben muss, bei Strafe der ewigen Verdammnis?

Diese Tat hat mich im Innersten getroffen.

Vielleicht deshalb bleibt der Täter für mich unerkannt, eine vage Erinnerung an einen großen Mann in einer schwarzen Kutte mit einer großen Kapuze über dem Kopf. Diese Tat hat mich im Innersten getroffen und mein Vertrauen in andere komplett zerstört. Niemand glaubt dir, niemand will sich auch nur ansatzweise damit beschäftigen. Niemand versteht deine Unsicherheit und Sprachlosigkeit.

Die Folgen: Scham und das Wissen, dass man nicht viel wert ist. Bestätigt auch durch die Leitung der Klosterschule, als sie mich nach Hause entließ mit der Begründung, der Junge ist nicht würdig, ein Angehöriger des Ordens zu werden. Er fühlt sich nicht berufen. Er ist so nah am Wasser gebaut. Ein richtiger Kerl verträgt doch eine Ohrfeige. Stigmatisiert als „komischer Typ“ kam ich zu Hause an und blieb es auch.

Der Beauftragte des Ordens, ein Psychologe, der sich um die gemeldeten Fälle kümmern soll, bot sich vierzig Jahre später als Mediator an. Leider beschränkt sich die Mediation darauf, Forderungen abzuwehren, meine leidvollen Erfahrungen zu relativieren oder auch meine Glaubwürdigkeit infrage zu stellen. Das heißt, das Unverständnis und die Abwehr setzen sich fort. Glücklicherweise bin ich durch die Therapie recht stabil und soweit symptomfrei, dass ich keine Angst mehr vor der Konfrontation mit Männern in seltsamen Gewändern habe oder in katholischen Kirchen Schweißausbrüche bekomme und mich eine aufsteigende hilflose Wut lähmt.

Da ich keinen Täter benennen kann, wurden mir weder eine Wiedergutmachung noch eine sonstige Hilfe angeboten.

Meine Hoffnung ist, dass durch die öffentliche Diskussion über Missbrauch und Gewalt gegen Kinder die Bevölkerung weiter sensibilisiert wird, damit weniger Menschen diese schlimmen Erfahrungen machen müssen. Auch möchte ich allen, die Ähnliches erleben mussten, Mut machen sich damit auseinanderzusetzen und sich, wenn möglich, mit professioneller Hilfe aus dem Kreislauf von Depression und Unverständnis zu befreien.