Von meinem 11. bis zu meinem 16. Lebensjahr wurde ich regelmäßig vom katholischen Pfarrer meiner Heimatgemeinde missbraucht.

Ich war Ministrantin und genoss es, viel Aufmerksamkeit von einem älteren geistlichen Herrn zu bekommen, dessen moralische Integrität in meinem Elternhaus und im sonstigen Umfeld über jeden Zweifel erhaben war. Durch die Nähe zu ihm, so suggerierte er mir, käme ich auch näher zu Christus. „Ich bin doch nur die Tür“, zitierte er gerne in Anlehnung an das Johannes-Evangelium. Um es klar zu sagen: Es war keine Gewalt im Spiel, sondern ich ging gern ins Pfarrhaus und bekam dort viel Zuwendung und Aufmerksamkeit. Genau diese Aufmerksamkeit fehlte mir zu Hause.

Mein kriegstraumatisierter Vater zog mich und meine Geschwister allein auf. Er hat zwar funktioniert, war aber emotional nicht richtig präsent. Er war daher leider auch nicht in der Lage, mich zu schützen. Meine sechs Jahre ältere Schwester hielt ihm eines Tages tatsächlich mein Tagebuch unter die Nase. Sie hatte den Vertrauensbruch begangen, es zu lesen und konfrontierte nun unseren Vater. Doch der war nicht in der Lage, irgendwas zu tun. Ich glaube, dass gerade diese kriegstraumatisierten Eltern vieles ausgeblendet haben und es nicht ertragen konnten, sich den Dingen zu stellen.

Das Einzige, was passiert ist, war, dass der Pfarrer dann zu uns nach Hause kam und sich praktisch bei meinem Vater entschuldigt hat. Aber deswegen hat das Missbrauchsgeschehen noch lange nicht aufgehört. Und auch von den anderen Erwachsenen im Umfeld der Pfarrei hat niemand gehandelt. Erst sehr spät habe ich erfahren, dass meine Freundinnen, die wussten, was im Pfarrhaus passierte, zum Teil mit ihren Eltern gesprochen haben, weil sie es selber so seltsam fanden. Und keiner hat was gemacht.

Mit 13, 14 bin ich dann selbst mit einer Schulkameradin in die Gruppenbeichte gegangen und beichtete unter Tränen meine Sexualkontakte mit dem damals 50-jährigen Priester. Ich war einerseits verliebt in den Herrn Pfarrer, andererseits aber auch tief verwirrt. Ich habe das alles ja gar nicht verstanden. Ich denke, es war meine Art eines Hilferufs. Doch anstatt dem Treiben ein Ende zu setzen, verwies uns der Priester allen Ernstes des Beichtzimmers mit einer Predigt darüber, dass dies ein Ort für Reue und Buße sei und gewiss keiner für schlechte Scherze.

Zunächst sollte die Zahlung an die Bedingung gebunden sein, dass ich nie wieder darüber spreche.

Als 2010 die ganzen Skandale ans Licht gebracht wurden, konnte ich auch zum ersten Mal in meiner Therapie drüber sprechen. Ich habe sehr lange Therapie gemacht, über zehn Jahre. Ich habe dann auch angefangen den Pfarrer und die Kirche mit dem Missbrauch zu konfrontieren. Ich habe mich an den Missbrauchsbeauftragten des Erzbistums Bamberg gewandt, mir eine Anwältin gesucht und in einem außergerichtlichen Verfahren eine Zahlung von 20.000 Euro von dem Pfarrer erwirkt. Zunächst sollte die Zahlung an die Bedingung gebunden sein, dass ich nie wieder darüber spreche. Ich hätte mich also allen Ernstes wieder zu einem Geheimnis verpflichten sollen! Wieder ein süßes kleines Geheimnis mit dem Herrn Pfarrer. Also ich fand das so schändlich. Ich weigerte mich, die Schweigeklausel zu unterschreiben und erhielt die Zahlung schließlich trotzdem. In einem Schreiben vom Erzbischof wurde mir außerdem mitgeteilt, dass dem Pfarrer verboten wurde, öffentlich Messen zu lesen. Dem Schreiben zufolge „die härteste Bestrafung, die einen Priester treffen kann“.

Angemessen wäre aus meiner Sicht jedoch der Gang in die Öffentlichkeit, zum Beispiel indem der Pfarrer in den Laienstand zurückversetzt wird. Stattdessen finde ich ein paar Jahre später in einem Pfarrbrief von 2014 ein Bild des Pfarrers im liturgischen Gewand, und zwei kleine Mädchen überreichen ihm eine Blume und eine Kerze und gratulieren ihm. Da packt mich so eine Wut! Es wird permanent behauptet, die wären an einer schonungslosen Aufklärung interessiert, man würde alles tun. Doch diese unsägliche katholische Kirche tut nichts. Es ist so verlogen. Auf ein Schreiben an den Erzbischof, in dem ich ihn auf den Verstoß gegen das Zelebrationsverbot hingewiesen habe, wartete ich jahrelang auf eine Antwort.

Seit einigen Jahren bin ich glücklich verheiratet und habe vor Kurzem ein Buch über moderne Spiritualität veröffentlicht. Eines der Kapitel habe ich dem Missbrauch in der katholischen Kirche gewidmet. Ich bin der festen Überzeugung, dass sich die Kirche und ihre Gemeinden ändern müssen, damit sich Dinge, wie ich sie erleben musste, nicht wiederholen.