Schon lange wollte ich über den sexuellen Missbrauch, den ich Mitte der 1950er-Jahre als neunjähriger Junge durchlitten habe, informieren. Jetzt kocht das Thema ja heftig hoch, der Deckel aus Vertuschung und Schweigen springt vom Topf, und da will ich mich einbringen. Der Täter war in meinem Fall ein evangelischer Vikar. Zu der Zeit arbeitete er in einem evangelischen Jungen-Kinderheim. Er kam regelmäßig zu uns ins Haus und bewohnte ein Mansardenzimmer neben meinem Kinderzimmer. In diesem Zimmer geschah immer wieder der Missbrauch auf eine für mich so quälende Art, dass ich sein Tun nur durch Ausschalten meines Körpergefühls aushalten konnte.

Ich konnte mit meinen Eltern damals nicht darüber reden, was dieser Mensch mir antat. Er war der Sohn des hochgeachteten Vorgesetzten meines Vaters. Doch der Vikar wurde auch gegen andere Jungen übergriffig. Es kam zu einer Anzeige und einem Prozess. Das bedeutete: Der evangelische Vikar quälte mich nicht mehr. Aber es begann etwas anderes Fremdes: eine Gerichtsverhandlung, in der ich als Neunjähriger als Hauptzeuge (nicht als Opfer) vernommen wurde und „nette Männer“ in schwarzen Talaren mich befragten und in den Gerichtspausen „nette Ehefrauen“ von Kollegen meines Vaters auf mich einredeten, der Vikar sei doch ein so netter Mensch, ich sollte nur nichts Schlechtes sagen.

Es endete mit seinem Freispruch. Meine Eltern schwiegen. Nur einmal am Abend nach der Verhandlung fragten sie mich, ob der Vikar für mich schuldig war. „Ja, er hätte bestraft werden müssen“, erinnere ich meine Antwort. Dann sprachen wir in der Familie nie mehr darüber. Der Staatsanwalt wollte Revision einlegen. Doch aus dem Justizministerium wurde er angewiesen, dies zu unterlassen. Der Justizminister war ein enger Freund des Vaters des Vikars. Das Ganze endete damit, dass der Staatsanwalt wegen psychischer Probleme vom Justizminister in den vorzeitigen Ruhestand versetzt wurde und der Vikar als Jugendpfarrer in ein anderes Bundesland ging. Dort missbrauchte er die Jungen weiter und es kam zu einem neuen Verfahren. Diesmal wurde er schuldig gesprochen und verurteilt.

Der Vikar ist als verdienter pensionierter Pfarrer der evangelischen Kirche verstorben.

Ich ging weiter zur Schule, machte Abitur und Wehrdienst, studierte und promovierte. Ich wurde zum Außenseiter in Schule und Studium. Nach der Promotion verließ ich das Institut und begann als Freier Künstler zu leben und mit Erinnerungsarbeiten zur Nazivergangenheit und anderen Orten politischer Verbrechen in der Welt zu arbeiten und auszustellen.

Erst später hat mich persönlich auch die Erinnerung an den von mir über viele Jahre verdrängten Missbrauch eingeholt. In den 1980er-Jahren lag der Schatten einer Depression auf mir. Auch in einer Therapie konnte ich kaum über den Missbrauch sprechen. Doch ich habe mich wieder aufgerichtet. Das künstlerische Arbeiten, der Analytiker und Freunde haben mir geholfen. Ich habe Familie, Kinder und Enkelkinder und viel Freude. Nur manchmal fühle ich noch die traumatische Erfahrung des missbrauchten Kindes und das wird im Alter nicht leichter. So habe ich 30 Jahre später versucht, die Prozessakten zu erhalten. Der Vikar ist in den 1990er-Jahren als verdienter pensionierter Pfarrer der evangelischen Kirche verstorben. Ein psychologisches Gutachten kam damals zu dem Schluss, dass der Kirchenmann eigentlich psychisch ein Kind geblieben war und mit seinen Opfern nur Kinderspiele machte, herumbalgen wollte er ohne jedes sexuelle Interesse. So kam das Gericht zu dem Urteil, das habe mit sexuellem Missbrauch nichts zu tun, sei nur ein Kinderspiel gewesen.

Lange habe ich gezögert, diesen Brief zu schreiben. Doch ich denke, es ist jetzt Zeit, damit diese „Kinderspiele“ aufhören.