Mit fünf Kindern war bei uns zu Hause kein Geld da für nichts. Es war ein kühles, streng katholisches Elternhaus mit regelmäßigen Schlägen. Als ich neun Jahre alt war, hatte ich die Möglichkeit, Messdiener zu werden.

Besonders in den Bann gezogen hat mich ein Kaplan, der ein Jahr später neu in die Pfarrei kam. Der war so ganz anders, völlig unkompliziert, nahm Kinder ernst. Ich hatte wirklich das Gefühl, dass da jemand ist, für den ich wichtig bin. Das ging eine ganze Weile, bis es beim Umziehen für das Messedienen zu merkwürdigen Umarmungen kam. Im Pfarrhaus, wo er für uns Gitarre gespielt hat, hab ich dann auf seinem Schoß gesessen, was mir total komisch vorkam. Und das ging weiter, bis irgendwann so dieses in die Hose greifen und küssen begann. Der Kaplan bewegte schließlich meine Eltern dazu, mich in den Sommerferien in eine Kinderfreizeit mitzugeben. Dort kam er abends ins Zimmer, schickte meinen Mitbewohner raus und ist zu mir ins Bett gekommen. Der Übergriff hat mich völlig schockiert. Ich wusste überhaupt nicht, was los war. Die Übergriffe setzten sich auf der Freizeit fort und als wir zurück nach Hause kamen, ging es dort weiter. Im Pfarrhaus, im Jugendheim. In Zeltlagern war es auch so, dass abends ausgelost wurde, wer zum Kaplan ins Zelt ging.

Dann - auf einmal - nach einem Jahr wurde es weniger. Und plötzlich ist er versetzt worden, dann war der weg. Ich hab versucht, die ganze Sache zu vergessen oder wegzuschieben. Ich hatte zu der Zeit schon massive Schlafstörungen und auch Selbstmordgedanken. Später habe ich mich selbstständig gemacht, lernte meine Frau kennen, wir haben geheiratet und zwei Kinder bekommen. In der Zeit war der ganze Missbrauch auch vergessen, der war weg. Aber kurz nachdem der Älteste geboren wurde, kamen erste Erinnerungen wieder und ich hatte Flashbacks. Mein Körper reagierte mit Krämpfen und ich wurde ohnmächtig. Wir waren hoffnungslos überfordert; meine Frau wusste da auch schon Bescheid.

Wie geht er mit dem Wissen um, dass es unter Umständen zehn, 20, 30 andere Betroffene gibt?

Irgendwann hab ich ganz vorsichtig angefangen, mich der Sache zu stellen. Aufgefangen hat mich dabei vor allem die Beratungsstelle Zartbitter. Ich erzählte auch meinen Eltern davon. Sie reagierten bestürzt und sagten, dass sie nichts davon gewusst oder mitgekriegt hätten. Man hat aber damals schon gewusst, dass dieser Kaplan versetzt worden ist, weil da irgendwas war. Ich habe die Sache auch dem Bistum angezeigt, um etwas gegen die Ohnmacht zu tun. Es kam dann zu einem Gespräch mit dem Kirchenjuristen, in seiner Funktion als Missbrauchsbeauftragter. So tiefgreifend konnte ich das zu der Zeit allerdings noch gar nicht erzählen. Er hat mir einen Antrag dagelassen - auf diese Anerkennung des Leids. Das ist ein ganz merkwürdiges Konstrukt, da tue ich mich extrem schwer mit. Erst wollte ich ihn nicht ausfüllen, hab aber einfach gesehen, dass ich aufgrund meiner ganzen Krankheitsgeschichte wirklich am Ende war – auch wirtschaftlich. Der Kirchenjurist teilte mir mit, dass in der Akte des Herrn Kaplan nichts vermerkt gewesen wäre. Das Einzige wäre ein Zeitungsausschnitt, dass der Mann zehn Jahre später in einem anderen Ort zu einer Geldstrafe verurteilt worden sei - wegen sexuellem Missbrauch von Kindern.

Lange hörte ich erst mal nichts. Ich bekam dann ein Schreiben vom Bistum, da stand drin, dass man mir aufgrund der Schwere meiner Situation 8.000 Euro anstelle der üblichen 5.000 Euro überweisen würde. Außerdem würde mein Eigenanteil der Therapiekosten übernommen. Der Umgang des Bistums hat mich wirklich geärgert. Also habe ich bei dem zuständigen Pastor einen Termin vereinbart. Er hatte keine Ahnung von meinem Fall. Ich fragte ihn, wie er mit dem Wissen umgeht, dass es unter Umständen zehn, 20, 30 andere Betroffene gibt, die die gleichen Probleme hätten wie ich. Er hatte keine wirkliche Antwort darauf. Er würde da mal nachfragen, aber es ist nie was von ihm gekommen.

Mittlerweile hat der Pastor zweimal gewechselt. Mit allen habe ich gesprochen. Der aktuelle Pastor gab mir irgendwann Bescheid, dass man am Bistum eine Stelle und Seminare für Pastoren einrichten will. Da hab ich gedacht: Toll, das hilft mir jetzt weiter. Also habe ich schließlich richtig Druck gemacht. Und dann passierte auf einmal was. Es kam zu einem Treffen mit zwei Herren vom Bistum. Das war Anfang letzten Jahres. Bei dem Gespräch wurde mir in Aussicht gestellt hat, dass die Gemeinde diesen Fall benennen wollte. Das fand ich gut, denn das Wichtigste wäre einfach, dass die Kirche mal Kante zeigt und zu den Dingen steht, die da passiert sind. Der Pastor wollte mich weiter auf dem Laufenden halten. Er rief irgendwann an und sagte, dass sie die Wahlen des Pfarreirats Ende des Jahres abwarten müssten. Die ganze Geschichte wurde also aufs nächste Jahr vertagt.

Ich frage mich, wie soll die Kirche ernsthaft über Prävention reden können, wenn sie nicht mal hingeht und das, was gewesen ist, anständig aufarbeitet?