Jedes Mal, wenn ein Fall von Kindesmissbrauch bekannt wird, kommen mir die Kindheitserinnerungen ins Gedächtnis, als wäre es gestern gewesen. Über viele Jahre Verdrängtes wird gegenwärtig.

Es war ein schöner warmer Sommer in den 1960er-Jahren. Auf dem Kirchvorplatz fragte mich der Diakon, ob ich ein Campingzelt geschenkt haben möchte. Einzige Bedingung war, dass ich allein kommen sollte: Er habe nur ein Zelt zu verschenken und könne daher die anderen Kinder nicht auch mit Zelten versorgen.

Mir ist heute noch ein Rätsel, wie der Mann auf mich aufmerksam wurde und woher er wusste, dass Campen mein größter Wunsch war. Mit viel Respekt in den Knochen vor dem Mann, mit elf Jahren nicht wissend, was es für menschliche Abgründe gibt, bin ich zu ihm gegangen. Nicht allein wie gefordert, sondern mit einem Freund. Das war dem Zufall geschuldet. Wir spielten auf dem Kirchvorplatz Fußball, als mir einfiel, dass der Mann mir ein Zelt versprochen hatte. Mein Spielkamerad forderte mich auf, das Zelt jetzt abzuholen. Gesagt, getan.

Wir gingen zu seinem Büro, das in einem Wohnhaus gelegen war. Der Diakon empfing uns an der Haustür. Er war etwas irritiert, bat mich in sein Büro und sagte meinem Freund, er müsse draußen bleiben, weil er mit mir etwas Wichtiges zu besprechen hätte. Er ging mit mir in das Zimmer, setzte sich und bat mich, auf seinem Schoß zu sitzen, was ich auch tat. Mit einer ganz anderen Tonlage sagte er mir, dass er mir das Zelt heute noch nicht geben kann, weil ich nicht auf ihn gehört habe und nicht allein gekommen bin, dabei fummelte er mir in der Hose herum. Mein Glück war, dass mein Freund nach mir rief und an die Tür klopfte. Das rettete mich wohl vor weiteren Belästigungen.

Ich wusste instinktiv: Da darfst du nicht mitfahren, niemals.

Der Pastor erklärte mir, dass er keine Zeit mehr hat, ich müsse nochmals wiederkommen, aber dieses Mal allein. Mir war gar nicht gut, ich war irgendwie verstört. Eigentlich wusste ich gar nicht, was mit mir war und wollte nur schnell das „Unangenehme“ vergessen. Das tat ich auch, indem ich mich beim Diakon nicht mehr meldete, das Zelt wollte ich nicht mehr.

Aber es kam anders. Mutter hatte genug mit uns sechs Kindern zu tun und Vater war Schuhmacher. Als solcher war kein Reichtum vorhanden, die Haushaltskasse war meist leer. Das wusste auch der Diakon. Da war er wieder, der Süchtige nach Kindern. Wollte sich das Vertrauen mithilfe meiner unwissenden Mutter erschleichen, um an mich ranzukommen.

Er versprach meiner Mutter für die Kosten einer vierwöchigen Zeltfahrt aufzukommen. Das Gespräch fand in unserer Stube statt. Ich war im Sessel zusammengekrümmt vor Angst, wusste ich doch, dass dieser Mann mich wieder berühren wollte und nur deshalb die Kosten der Reise übernahm. Ich konnte damals meiner Mutter nicht sagen, was vorgefallen war, weil ich es nicht erklären konnte und mein Wortschatz nicht ausgeprägt war. Ich wusste nur instinktiv: Da darfst du nicht mitfahren, niemals.

Er hatte meine Mutter für sich gewonnen. Mutter war froh, einen Esser weniger am Tisch zu haben. Gleichzeitig bekommt der Bengel einen Urlaub geschenkt und das noch ohne Sorge: Der Diakon versprach meiner Mutter, persönlich auf mich aufzupassen. Somit redeten jetzt zwei Erwachsene auf mich ein. In die Enge getrieben, sagte ich verängstigt: „Ich gehe da nicht hin, da muss ich beten und das will ich nicht!“ Der Diakon meinte sofort, wenn er denn nun morgens nicht beten möchte, dann braucht er das nicht, er kann dann solange im Zelt warten. Ich, inzwischen mit Tränen in den Augen, fand keine Worte, um mich nun weiter aus der Schlinge zu ziehen. Mutter sah das und das rettete mich vor dem „Urlaub“ mit diesem Mann. „Wenn er denn nun gar nicht will“, waren ihre Worte, „dann bleibt er hier“.

Auch nachdem er weg war, habe ich noch eine ganze Zeit in diesem Sessel zusammengekauert gesessen und mich nicht herausgetraut. Dieses Erlebnis, dieses Nachverfolgen, war für mich schlimmer als die Handlung an sich. Genau an dieser Stelle enden immer meine Alpträume und ich wache auf.