In meiner Kindheit wurde ich von meinem Vater missbraucht. Er nutzte dafür die Zeit am Abend, wenn er kam, um eine Gute Nacht zu wünschen.

Ich lag im Bett und erzählte vom Tag, die schönen und die schlechten Erlebnisse. Mein Vater saß neben mir und streichelte mich, immer wieder und immer weitergehend. Bis er mich im gerade erst wachsenden Schamhaar und in der Vagina berührte. Wie alt ich war und wie oft es geschah, an all das habe ich keine Erinnerung mehr. Nur wo mein Bett stand und dass es nicht gleich nach dem Einzug in die neue Wohnung war, das weiß ich mit Sicherheit. Ich muss also zwischen 12 und 16 Jahre alt gewesen sein. Aufgehört hat es erst, als ich mich immer schlafend stellte, wenn er kam. Und wirklich seinem Zugriff entzogen war ich erst, als ich mit fast 20 Jahren die Stadt verlassen habe und endgültig aus der Familie ausgezogen bin.

Mein Vater war zu der Zeit Pfarrer mit einem Sonderpfarramt, also nicht mehr in einer Kirchengemeinde. Er war zuständig für die Aus- und Fortbildung der Religionslehrkräfte. Ob es damals Zeugen gab, ist schwer zu sagen. Die Situation beim Gute-Nacht-Sagen war gerade davon geprägt, dass wir nur zu zweit waren und die Tür meist geschlossen war. Meine Mutter hat später gesagt, sie habe nichts gewusst. Nur einmal habe es eine Situation auf dem Ehebett meiner Eltern gegeben. Sie sei dazu gekommen und habe gefragt, was läuft denn hier ab. Aber genauer nachgeforscht hat sie damals nicht.

Die evangelische Familie als Vorbild für die heile Familie. Da durfte nichts dieses Bild stören.

Der erste, der von dem Missbrauch erfuhr, war mein erster ernsthafter Freund. Er war viel älter als ich und war neu in unsere Kirchengemeinde gekommen. Ich war sehr verliebt und fühlte mich endlich ernstgenommen. Er war Jugendreferent in meiner Gemeinde und ich war als ehrenamtliche Mitarbeiterin in der Kinder- und Jugendarbeit tätig. Als er in die Gemeinde kam, war ich zwar volljährig, machte aber auf ihn den Eindruck einer 14-Jährigen. Einmal als er mich streichelte, rutschte es mir heraus, es sei ja auch nicht anders als bei meinem Vater. Seine Reaktion darauf war, mich zu drängen, mit meinem Vater darüber zu reden. Das habe ich dann gemacht und mein Vater hat den Missbrauch zugegeben. Auch dieses Gespräch fand nur unter vier Augen statt - im Pfarrbüro meines Vaters. Er hat mir angeboten, mit einem Kollegen von ihm zu reden, völlig unvorstellbar und keine Hilfe für mich.

Während des Missbrauchs war mir gar nicht wirklich klar, was mit mir geschah. Ich wusste zu wenig über mich, meinen Körper und die Grenzen im Umgang zwischen Eltern und Kindern. Dazu kam die besondere Situation im Pfarrhaus. Die evangelische Familie als Vorbild für die heile Familie. Da durfte nichts dieses Bild stören. Dabei ist das evangelische Pfarrhaus ein geschlossenes System. Freundschaften und Bekanntschaften werden immer nur bis zu einer gewissen Nähe zugelassen. Danach kommt der Bereich der Familie, der niemanden etwas angeht. In diesem Bereich fand der Missbrauch statt. Als mir klar wurde, was mir angetan wurde, hatte ich keine Idee, an wen ich mich hätte wenden können. Außerdem erschienen mir potentielle Konsequenzen für meinen Vater existenzzerstörend. Ich stellte mir vor, dass er seine Arbeit und seine Altersabsicherung verlieren könnte. Und dann gab es da auch die Seiten an ihm, die gut waren. Er war nicht nur der schlechte Vater, den ich einfach hätte verdammen können.

Der Missbrauch hat Folgen hinterlassen, auch im Umgang mit meinem Mann und meinen eigenen Kindern. Immer wenn der Kontakt zu meinen Eltern drohte, hatte ich offen entzündete Stellen in der Mundschleimhaut. Als ich noch im Elternhaus wohnte, hatte ich starke Migräneanfälle. Die wurden weniger, je weiter ich mich von meinen Eltern entfernte und je mehr ich mir eine eigene Familie aufbaute. Erst nach meinem 50. Geburtstag und als meine Kinder aus dem Haus waren, fand ich die Kraft und die Zeit eine Therapie anzustreben. Dazu benötigte ich viel Durchhaltevermögen. Zunächst der Gang zu einer Fachberatungsstelle von Wildwasser, die Suche nach einer Therapeutin, das wiederholte Erzählen vom Missbrauch. Dann das Warten auf einen freien Therapieplatz, der Antrag bei der Krankenversicherung und die Bescheinigung vom Hausarzt. Ich denke, es ist nötig, Fachberatungsstellen finanziell abzusichern. Hier gibt es niedrigschwellige Angebote, an die sich Betroffene wenden können. Gerade wenn der Missbrauch nicht bis zur Vergewaltigung ging und nicht in zerrütteten Familienverhältnissen stattgefunden hat, sind die Hilfsangebote gering.

Die Arbeit der Kommission ist wichtig und sollte zu einer ständigen Institution werden. Missbrauch an Kindern ist nichts, dass einmal aufgearbeitet werden kann und dann für alle Zeit verschwunden ist.