Der Pfarrer unterrichtete uns Kinder in Religion. Meine Eltern waren in der katholischen Gemeinde ehrenamtlich sehr aktiv. Oft arbeiteten sie auch mit ihm zusammen. Ich habe bereits als Jugendliche Kindergruppen geleitet. Der Pfarrer war ein sehr beliebter und anerkannter Priester und genoss bei meinen Eltern großes Vertrauen.

Der erste sexuelle Übergriff geschah in den 1970er Jahren während einer Jugendfreizeit im Ausland. Ich war 16 Jahre alt. Es waren die letzten Ferien vor Beginn meiner Pflegeausbildung in einem katholischen Krankenhaus. Er lud mich am letzten Abend zu einem Spaziergang ein. Dabei versuchte er mich unvermittelt zu küssen. Nach der Freizeit wollte er mich immer wieder treffen, um mir meine Verwirrung zu erklären, das heißt auszureden und sein Handeln zu rechtfertigen. Diese Übergriffe führte er während meiner Ausbildung fort.
Der Pfarrer wollte mein Vertrauter sein. Er überzeugte mich, dass wir nichts Verbotenes taten, und ich ließ mich zögerlich auf die Kontakte ein. Zwei Jahre zuvor wollte ich nicht an der in der DDR üblichen Jugendweihe teilnehmen. Auf Druck von Eltern und Lehrern machte ich dann doch mit, um auf die Erweiterte Oberschule gehen zu dürfen. Ich erfüllte von meinen Leistungen her alle Voraussetzungen, aber weder Lehrer noch Eltern halfen mir, einen Schulplatz zu bekommen. Ich durfte nicht einmal einen Antrag stellen. Ich fühlte mich betrogen und mit meinem Wunsch nach Bildung ignoriert.

Der Pfarrer hatte viel Verständnis für meine schwierige Situation in Schule und Familie. Wir wollten gemeinsam die Welt ein wenig besser machen und um Demokratie kämpfen. Alles, was zwischen uns beiden geschah, sollte freiwillig in gegenseitigem Respekt geschehen. Als älteste Tochter einer kinderreichen Familie, in der mir früh viel Verantwortung übertragen wurde, nahm ich seine Aufmerksamkeit zögerlich, aber dann doch an. Die Heimlichkeit unserer Treffen sei nur zum Schutz unserer beiden Arbeitsverhältnisse in den katholischen Institutionen. Da er sexuelle Handlungen ausschloss, schien nichts Verbotenes dabei zu sein. Gegenseitige Umarmungen und Küsse forderte er ein. Diese hätten nichts mit Sexualität zu tun, sagte er, sondern wären ein natürliches Bedürfnis.

Er schrieb mir ein Gedicht, dass ich sein Engel sei und ihn vor seinem geplanten Suizid bewahre. Später sprach er davon, dass er Suizid begehen würde, wenn ich ihn verlassen würde. Er sprach über einen Amoklauf und deutete Drohungen gegen meine Eltern an. Ich wusste nie, wie ernst er diese Drohung meinte. Mit der Zeit wurden die Heimlichkeiten immer belastender. Ich wollte meine Eltern nicht mehr belügen. Ich wollte meine Ausbildung nicht gefährden und suchte nach mehr Distanz. Er überredete und überzeugte mich immer wieder zu weiteren Treffen. Und plötzlich, um meinem 17. Geburtstag herum, kam es zum ersten nicht einvernehmlichen Geschlechtsverkehr.
Während der nächsten Tage fühlte ich mich verwirrt, verletzt, hintergangen und erstarrt. Nun war er scheinbar sehr liebevoll und forderte immer wieder, dass ich mit ihm sprach. Ich fühlte mich nicht verstanden, sondern bedrängt. Als ich dann sagte, dass ich „das“ nicht wolle, hörte er gar nicht hin, sondern gab mir das Buch „Mann und Frau intim“ über Sexualität in der Partnerschaft zu lesen und erklärte, wie Sex zwischen Mann und Frau „richtig“ funktioniere.

In der DDR gab es keine unabhängige Jugendberatungsstelle.

Er ist über 20 Jahre älter als ich. Ich hatte das Gefühl, dass durch die Sexualität mit diesem alten Mann meine eigene Zukunft und mein eigenes Leben ausradiert wurden. Meine Seele blieb verwirrt und verletzt, mein Vertrauen beschädigt. Ich traute meiner eigenen Wahrnehmung nicht. Ich verstand meine widersprüchlichen Gefühle nicht und hatte niemanden, mit dem ich darüber sprechen konnte. Ich fühlte mich sehr einsam und unverstanden. Nur mit ihm durfte ich reden. Das schärfte er mir immer wieder ein. Aber er sprach mit seinen Freunden und Bekannten über uns auf eine Art, die mir nicht gefiel. Oft beleidigte und beschuldigte er meine Eltern, schlechte Menschen zu sein.

Als er sagte, er würde mich vor ihnen retten, wehrte ich mich verbal gegen diese Übergriffigkeit, ich musste und wollte nicht gerettet werden. Er war es jedoch gewohnt, dass ihm niemand widersprach, bzw. dass er darauf keine Rücksicht nehmen musste.
Es entstanden Gerüchte, von denen auch die Ausbildungsleitung hörte. Ich schwieg, da ich nicht wusste, was mir wirklich geschah und wie ich meine Situation beschreiben konnte.

Er verlangte weiterhin mein Stillschweigen, da er sonst Ärger bekäme, für den er mich verantwortlich machte. Immer wenn es zu sexuellen Handlungen gekommen war, war er danach vorübergehend friedlicher, liebevoller, aber insgesamt verlor ich mehr und mehr Orientierung und Entscheidungsfreiheit. Ich wurde mir selber fremd. Er verbot mir jeden Kontakt zu meinen Eltern und den Geschwistern. Für unsere heimlichen Treffen organisierte er eine Wohnung.
Meine Bitte, mich zu respektieren und nichts was ich ihm über die Konflikte mit meinen Eltern anvertraut hatte, an Dritte weiterzuerzählen, ignorierte er. Ich wagte bald nicht mehr, noch irgendetwas zu sagen. Er entwertete jedes meiner Argumente. Nach den Gesprächen mit ihm war ich verwirrter, verletzter als vorher.

Ich wusste nicht, an wen ich mich wenden konnte. In der DDR gab es keine unabhängige Jugendberatungsstelle. Der Jugendfürsorge und den Fachärzten der Jugendpsychiatrie traute ich nicht. Er überwachte mich, mischte sich in alle meine Angelegenheiten ein und schien immer alles besser zu wissen als ich. Mir hätte niemand geglaubt. Als siebzehnjähriges Mädchen hatte ich keine Chance, ernst genommen zu werden. Nun beschwerte er sich immer häufiger über seine Arbeit. Er sagte, dass es ihm unmöglich sei, Priester zu bleiben, und dass er mich heiraten werde. Eine Ehe war nie unser Plan, und ich wollte diesen alten Mann nicht heiraten. Er legte sein Amt als Priester nieder. Ich bekam deswegen Schwierigkeiten in der Ausbildung. Da ich den Druck von allen Seiten nicht mehr ertrug, ich wurde krank, kündigte ich, noch immer minderjährig.

Wir zogen in eine andere Stadt. Als mein Vater kam, um die Ehe zu verhindern, ließ er ihn nicht in die Wohnung, sondern beschimpfte ihn laut schreiend auf der Straße. Als meine Mutter zu Besuch kam, weigerte er sich, sie zu begrüßen. Ich hatte Angst um meine Eltern und Geschwister. Ich traute mich nicht mehr ins Elternhaus zurück. Ich erlebte die Eltern als hilflos und die Ausbildungsleitung als gleichgültig.
Als ich ihm sagte, dass ich mit achtzehn Jahren nicht heiraten wolle, erwähnte er den Jugendwerkhof. Auf die Frage, was das sei, antwortete er, da kommen Mädchen wie ich hin, die ihre Ausbildung abbrechen und sich mit älteren Männern einlassen.
Nun hoffte ich, bald nach einer Heirat mit ihm die DDR verlassen und in der BRD ein neues eigenes Leben beginnen zu können. Bis zur Genehmigung der Ausreise lebte ich sehr isoliert. Ich erlebte ein so hohes Ausmaß an Gewalt und Schutzlosigkeit, wie ich es nie für möglich gehalten hätte. In dieser Zeit habe ich meine Kinder geboren. Vier Jahre später verließ ich mit ihm und meinen Kindern die DDR. Er blieb gewalttätig. Erst nach meiner Flucht ins Frauenhaus war ich in der Lage, mich zu wehren. Ich erlebte: Die Frauen im Frauenhaus nehmen mich auf, glauben mir und schützen mich. Und er konnte nicht mehr verhindern, dass ich über die erlittene Gewalt in der Ehe mit anderen Personen sprach. Die Ehe wurde nach vielen Jahren geschieden.

Ich habe nie wieder anderen Menschen vertrauen können. Ich habe sehr lange das Gefühl gehabt, dass meine Geschichte nicht gehört und mir nicht geglaubt wird. Auch um die Kinder zu schützen, schwieg ich. Es schmerzt besonders, dass sich die Missverständnisse gegenüber meinen inzwischen erwachsenen Geschwistern und Kinder nie aufklären ließen. Ich leide noch heute unter Flashbacks und dissoziativen Zuständen. Ich muss andere Menschen sehr auf Distanz halten, um mich nicht bedroht zu fühlen. Ich leide unter dieser selbst eingeforderten Einsamkeit. Wenn ich wütend bin und mich wehre, ruft es bei anderen oft Unverständnis und Irritationen hervor. Manchmal führt es dann zum Kontaktabbruch.

Die Anerkennung des Leids durch die Unabhängigen Kommission der deutschen Bischofskonferenz ist eine sehr positive Erfahrung und ein Zeichen, dass mir zugehört und ich ernst genommen werde, dass auch mein Leben eine Bedeutung hat. Von dem Geld habe ich mir jetzt mit über 60 Lebensjahren ein Literaturstudium finanziert und habe viel Freude am Studieren und am Schreiben.