Ich wurde in den 1950er-Jahren geboren und war einmal ein fröhliches Kind. Dieser Zustand fand ein Ende, als ein katholischer Pfarrer sich an mir vergriff. Damals war ich zwischen neun und elf Jahre alt. Das fröhliche Kind starb und übrig blieb ein Häufchen Angst und Entsetzen. Dem Kind war klar, dass es zu Hause nichts sagen konnte. Der Pfarrer war doch ein heiliger Mann. Dem Kind war ebenfalls klar, dass ihm niemand glauben würde und dass man es verstoßen würde, dass seine Eltern es nicht mehr lieben würden und überhaupt niemand mehr mit ihm würde zu tun haben wollen.

Im Religionsunterricht war des Pfarrers Lieblingsthema das 6. Gebot: „Du sollst nicht unkeusch sein.“ In allen Farben wurde dem Kind geschildert, was mit ihm dereinst passieren würde. In der tiefsten Hölle würde es landen. Ich war vollkommen allein mit diesem Schrecken. Wochenlang saß meine Mutter nachts an meinem Bett, weil ich vor Entsetzen nicht schlafen konnte. Eines Morgens stand ich vom Bett auf, ging in die Küche zu meinen Eltern und sank zu Boden. Meine Füße trugen mich nicht mehr. Mein Vater fuhr mich mit dem Moped in die Schule, hat mich in die Schulbank gesetzt und dort wieder abgeholt. Dieser Zustand verschwand wieder, um allen möglichen anderen Zuständen Platz zu machen. Ich konnte jahrelang nicht normal essen, und wenn ich morgens in die Schule ging, musste ich mich übergeben. Ich war extrem mager, und meine Eltern und der Arzt wussten sich keinen Rat. Recht bald verpackte ich die ganze Geschichte und versteckte alles so gründlich, dass ich überhaupt keine Erinnerung mehr an den Missbrauch hatte. Die Folgen aber waren fatal. Ich konnte niemandem mehr vertrauen und war extrem unsicher.

In der Schule konnte ich den Stoff nur mühsam lernen. Als ich die Schule mit dem Hauptschulabschluss beendet hatte, war ich nicht in der Lage, eine Lehre zu machen, weil ich Angst vor der Abschlussprüfung hatte. Mit 23 Jahren heiratete ich. Ich bekam zwei Kinder und bald hatte mich die Depression, für die ich damals noch keinen Namen hatte, fest im Griff. Alle Welt und vor allem ich selbst sagte mir: Reiß dich zusammen, du hast doch alles. Du hast einen lieben Mann, Kinder, ein Haus. Während meiner dritten Schwangerschaft wusste ich: Entweder machst du deinem Leben jetzt ein Ende oder du suchst dir Hilfe. Der Arzt, den ich aufsuchte, befand, das sei eine endogene Depression. Er verschrieb Antidepressiva und anschließend Lithium, das bis ans Ende meiner Tage einzunehmen sei. Ich erschrak über die Nebenwirkungen. Nein, das wollte ich nicht. Auf meine Frage nach einer Gesprächstherapie antwortete er mir, er hätte keine Zeit, um mit jeder unzufriedenen Hausfrau Gespräche zu führen.

In meinem Innern war eine Leere, größer als das Meer.

Jede kleinste Anforderung war ein unüberwindlicher Berg. In meinem Innern war eine Leere, größer als das Meer. Ich versuchte von Tag zu Tag zu überleben. Bei einer Veranstaltung sprach mich ein früherer Bekannter an und sagte, ihr hattet doch damals einen Pfarrer, der reichlich übel war. Ja, tatsächlich, fiel mir ein. Aber Gott sei Dank habe ich das offenbar ganz gut verarbeitet, schließlich hatte ich bis dahin nicht mehr daran gedacht. „Es“ blieb unter dem Deckel.

Anfang 2010 las ich in der Tagespresse, dass ein Bischof den Missbrauchsskandal der Kirche abtat mit der Begründung, die 68er-Bewegung mit ihrer sexuellen Revolution sei schuld daran. Ich habe mich fast auf meinen Frühstücksteller erbrochen. Von da an begann meine schmerzhafte persönliche Aufarbeitung. Von der Diözese bekam ich 5.000 Euro als Anerkennung für erlittenes Leid. Den Antrag dazu schickte ich unausgefüllt zurück, weil ich beim Lesen in einen schlimmen Zustand geraten bin. Ich sollte Tag und Stunde des Missbrauchs angeben und den genauen Hergang, da dies für die Höhe der Zuwendung wichtig sei. Ich hatte wiederholt mehreren Menschen in der Diözese mündlich und schriftlich meinen Fall schildern müssen. Es war alles bekannt und trotzdem sollte ich noch mal einen Antrag mit üblen Fragen ausfüllen. Niemand, der so etwas initiiert, hat sich jemals mit traumatisierten Menschen beschäftigt. Schockierend ist, dass es oft darum geht, Schaden von der Kirche abzuwenden. So beschrieb ein früherer Aufarbeitungsbericht der Diözese es als eine „Tragik, von der auch Täter nicht ausgenommen sind“. Eines Missbrauchs schuldig und überführt zu werden, sei eine Lebenskatastrophe.

Diese Täter aber waren erwachsene Menschen und niemand hat sie zu ihrer Tat gezwungen. Als Betroffene kommt man aus dieser Nummer psychisch und körperlich nicht mehr raus. 2012 bin ich aus der Kirche ausgetreten. Ich bin nicht aus der katholischen Kirche ausgetreten, weil ich von einem Pfarrer missbraucht worden bin, sondern wegen des Umgangs mit mir als Betroffene. Ich will nicht mehr zu einer Gemeinschaft gehören, in der Frauen weniger wert sind als Männer und das Ansehen der Kirche so wichtig ist, dass man auf Kosten von Kindern Verbrechen vertuscht und Verbrecher deckt.