Dass ich im Alter von zwölf Jahren von einem Arzt vergewaltigt worden bin, hatte ich über dreißig Jahre lang komplett verdrängt. Vor vier Jahren sah ich ihn an einer Bushaltestelle. Ich stand im Stau und fuhr im Schritttempo an ihm vorbei. Plötzlich war da ein Satz: Das durfte der gar nicht. Damit einhergehend Bilder, Angst, Schmerz, Fassungslosigkeit. Ich schaffte es noch bis nach Hause und brach zusammen.

Es ist schwer zu beschreiben, weil alles im Kopf passierte. Das Erinnern, was dieser Mann mit mir gemacht hat, und das Erkennen, dass er das nicht durfte, dass das etwas ganz Schlimmes war. Diese Zusammenbrüche hatte ich noch drei oder vier Mal. Zusammenbruch heißt, dass ich mich nicht mehr bewegen kann, stark weine und zittere, mich übergebe, einfach gar nichts mehr geht. Mit meiner Therapeutin habe ich nach und nach Techniken gelernt, mit den Flashbacks umzugehen. Damals habe ich den folgenden Text aufgeschrieben:

Eigentlich war es immer derselbe Ablauf. In der Arztpraxis ist nicht viel los, kurz warten, dann in den Raum hinten links. Akkurat sitzender Kittel, er sitzt auch selbst ganz gerade, spricht leise, ich kann mich an die Fragen nicht mehr erinnern, aber daran, dass ich sie nicht beantworten wollte, es war irgendetwas Peinliches. Irgendwann das „Dann sehen wir uns das mal an“, und ich muss mich ganz ausziehen. Wahnsinnig peinlich. Abhören mit kaltem Stethoskop, abtasten, er sitzt dabei ganz nah vor mir, auf diesem Rollhocker. Gewogen werde ich auch. Er sagt: „Viel zu viel“ und „Dann müssen wir mal weiter gucken“.


Plötzlich war da ein Satz: Das durfte der gar nicht.

Ich muss mich nach vorne beugen über die Liege. Er hat mir mit dem Finger im Po herumgestochert, immer mit Vaseline. Ab dem dritten oder vierten Mal hat er sich währenddessen einen runtergeholt. Ich kämpfe mit dem Begriff, weil „sich selbst befriedigt“ ordentlicher klingt, aber das war es nicht. Ich wusste damals nicht, was er da macht.

Er hat mich sauber gewischt, die Scheißvaseline hat er auch weggewischt, und dann durfte ich mich wieder anziehen. Danach noch mal kurz hinsetzen an den großen braunen Schreibtisch, er schreibt irgendwas, sagt nichts. Ich erinnere mich an das Gefühl von Erleichterung, weil keine Fragen mehr kommen, ich wieder angezogen bin und es vorbei ist.

Die Erinnerung an das letzte Mal überlagert alles, da habe ich nur die Erinnerung an die Vergewaltigung an sich. Es war zu viel, ich glaube, ich wusste damals, im Gegensatz zu den anderen Malen, dass das falsch war. Ich konnte das nicht verdrängen und irgendwie als normal einordnen. Alles andere konnte ich immer noch als Arztbesuch wegstecken, aber das nicht: Das war Gewalt.

Das Schlimmste war, dass er es machen konnte und ich mich nicht wehren kann, weil ich gelähmt bin und keinerlei Idee habe, was Wehren überhaupt sein könnte. Ich sage nichts und mache nichts und versuche nur wegzukommen im Kopf, ohnmächtig. Er hat die Macht, das zu tun und ich habe nichts.

Das Schlimme war auch das Nichtwissen, Nichtaufgeklärtsein, Nichtahnen, dass mein Körper mir gehört und ich entscheide, was damit passiert. Wenn man das ganz frühzeitig Kindern beibringen und ihnen mehr helfen könnte, zu verstehen oder zu merken, dass etwas nicht in Ordnung ist, dann wäre viel gewonnen.

Ich fühle mich heute in Sicherheit, habe aber auch das Gefühl noch einen weiten Weg vor mir zu haben, bis mich diese Dinge wirklich nicht mehr beeinträchtigen. Ich habe gelernt, mich um mich selbst zu kümmern und mir Leute zu suchen, die gut für mich sind. Ich sehe auch einen kleinen Vorteil: Ich bin selbst sehr wachsam, was andere Menschen angeht. Ich merke schnell, wenn jemand Probleme hat, und ich kann andere ganz gut schützen und begleiten.