Ich bin Anfang der 1960er-Jahre geboren. Ungefähr mit sieben Jahren fingen die ersten Anbahnungen seitens meines Ersttäters an, der auch ein Freund meiner Mutter war.

Meine Mutter war 18 Jahre alt, als ich geboren worden bin, mein Vater zwanzig. In der damaligen Zeit musste man heiraten, wenn man schwanger war. Eigentlich haben sie sich nicht verstanden. Ich glaube, die Ehe hat vier oder fünf Jahre gehalten.

Ich bin in Berlin größtenteils bei meiner Großmutter aufgewachsen, in SO36, im Kreuzberger Kiez. Wir wohnten in einer Zwei-Zimmer-Wohnung mit dem berühmten Außenklo auf halber Treppe. Man musste über den Flur gehen und sich mit sechs Leuten das Klo teilen. In einem der beiden Zimmer lag mein Großvater und siechte langsam am Lungenkrebs vor sich hin. In der Küche brannte durchgehend der Kohleofen, für den man ständig Kohlen holen musste. Mein Vater wohnte in der gleichen Straße, zwölf Häuser weiter. Zu dem musste ich nur, wenn es um Unterschriften von Zeugnissen ging.

Kreuzberg war ein Arbeiterviertel. Das bedeutet, wenig Geld, wenig Selbstwertgefühl, viel Langeweile. Eltern, die auf nichts achten. Ich war Schlüsselkind. Keiner hatte Zeit für mich Siebenjährigen. In unserer Straße war ein kleines Fotogeschäft. Irgendjemand kam auf die Idee, ich könnte in diesem Fotogeschäft Hausaufgabenhilfe bekommen. Ich war damals ein aufgewecktes Kerlchen und dachte: Finde ich cool. Und der Typ war auch ganz nett, bei dem gab es immer Kakao und etwas Leckeres zu essen. Der hat mir das Gefühl gegeben, ich wäre ein bisschen wichtig, denn ich konnte mithelfen: Mal seinen Dachboden aufräumen und vielleicht Staub wischen.

Die Grundschule ging damals nur bis mittags. Zu Hause war keiner. Also bin ich in den Fotoladen. In der Mittagspause wurde die Tür zugeschlossen und der Vorhang zugemacht. Da fingen dann langsam diese Anbahnungen an. Zuerst wurden Fotos gesichtet und geprüft. Da waren manchmal auch freizügigere Fotos dabei von Eheleuten. Und die lagen plötzlich offen rum. Er fragte: „Willst du mal gucken, wie findest du denn das?“ Ich: „Bäh, lass mich in Ruhe damit.“ Er: „Ach, das ist aber ganz schön.“ Und so fing dieser ganz langsame, schleichende Prozess an.

Letztendlich hat er mich in eine gewisse Form von Abhängigkeit gebracht. Am Anfang nicht mit Druck, sondern mit „Liebe“. Es gab kleine Geschenke, so hat er mein Selbstwertgefühl aufgebaut. Eines Tages sagte er, dass er mich auch mal fotografieren könnte. Fand ich erst mal toll. Wir haben ein paar Fotos gemacht, dann nur noch in der Badehose und schließlich auch Nacktfotos. Da fing es das erste Mal an mit Streicheln. Mein Problem war, ich wusste überhaupt nicht, was der da macht. Ich dachte: Das gibt es, das muss jetzt einfach so sein, das gehört dazu. Und dann ging das anderthalb Jahre immer weiter. Als ich nicht mehr wollte, hat er mich mit den Fotos erpresst: „Was meinst du, wenn die dein Lehrer sieht, wenn das deine Schulkameraden sehen?“ Und so fing das dann an, dass ich ihn oral befriedigen musste.

Dann hat er mich in seinen „Freundeskreis“ eingeführt. Das waren Männer, die ebenfalls auf kleine Jungs und kleine Mädchen standen. Das muss man sich wirklich vorstellen. Da saßen drei, vier erwachsene Männer, die Kinder wurden rumgereicht, jeder durfte mal ran. Auch davon wurden Fotos gemacht. Da wusste ich, es ist nicht okay, was hier passiert. Aber er hatte mich in der Hand, das war für mich ganz klar. Die Treffen des „Freundeskreises“ fanden in Privatwohnungen statt. Teilweise gab es auch Übergabepunkte, da wurde ich seinem Freund überreicht.

Ich will meiner Vergangenheit nicht
die Macht über meine Gegenwart geben.

Als ich zehn oder elf Jahre alt war, ging es um irgendwelche Sorgerechtsfragen. Und plötzlich war das Jugendamt mal bei uns. Da habe ich versucht, das zu erzählen. Aber natürlich nicht reflektiert, sondern mit aller gebotenen Vorsicht. Und immer mit der Gefahr im Hinterkopf: Was ist, wenn er das mitkriegt? Was macht der mit den Fotos? Das Jugendamt hat nichts gemacht, obwohl ich versucht habe, das in Kindersprache zu vermitteln.

Ich ging weiter ins Fotogeschäft. Der „Freundeskreis“ wurde größer. Ich bekam mal einen Film umsonst, mal einen Fotoapparat geschenkt. Zuckerbrot und Peitsche. Damals war ich das erste Mal in einer Schwulen-Sauna. Ich war nicht das einzige Kind dort. Einer meiner Täter war Zahnarzt. Der führte seine Rollenspiele auf dem Zahnarztstuhl durch. Manchmal ging es am Wochenende in eine andere Stadt, weil es da auch „Freunde“ gab. Meine Fotos waren dort schon bekannt, die wurden vorher ausgetauscht. Einer der Männer sagte mir: „Kannst ja gern zur Polizei gehen. Ich werde verhindern, dass irgendwas bei rauskommt.“ Er war Richter. Wer geht denn gegen einen Richter vor? Ich nicht.

Mittlerweile kannte ich schon relativ viele Varianten von Sexualität oder was man so darunter versteht. Dann wurde ich an den Bahnhof Zoo gebracht: „Mensch guck mal, hier kannst du richtig Kohle verdienen.“ Ich wusste auf der einen Seite, dass das nicht okay war. Auf der anderen Seite, das ist das Verrückte, war das auch eine Form von Aufwertung. Man interessiert sich für mich. Dass es dabei um Prostitution ging, war mir damals gar nicht bewusst. Auch nicht, ob er mit mir Geld verdiente. Den damaligen Strafverfolgungsbehörden war bekannt, dass an der Kurfürstenstraße der „Babystrich für Mädchen“ und an der Jebenstraße am Zoo der „Babystrich für Jungen“ war. Da ist die Polizei permanent langgelaufen, aber sie haben nichts getan. Was wäre passiert, hätten die Strafverfolgungsbehörden da mehr eingegriffen? Hätten die Kinder in Obhut genommen oder gefragt: Wer läuft hier eigentlich rum? Warum läuft der Zwölfjährige abends um acht oder neun auf einem stadtbekannten Jungenstrich durch die Gegend? Ich frage mich, ob man dieses Martyrium nicht ein bisschen hätte verkürzen können.

Also, erst wurde ich gezwungen, später gab es eine gewisse Freiwilligkeit. Dann kamen Sprüche wie: Du wolltest es doch auch. Also hat man die Klappe gehalten und es über sich ergehen lassen. Mit 13 am Bahnhof Zoo habe ich schnell einen Mechanismus gefunden, das für mich erträglicher zu machen. Ich fing an zu kiffen. Dann kam dazu der Zwang, zum Zoo zu gehen: Ich brauchte Geld. Mit 14 Jahren habe ich mich selbst verkauft, um Geld für die Drogen zu bekommen.

Ich hatte mit 15 Jahren meine erste Freundin. Nach und nach habe ich geschnallt, dass ich mein Leben ändern muss. Weg vom Zoo, weg von den Drogen, weg von der Kriminalität. Meine damalige Überlebensstrategie: Das Erlebte ganz tief in mir wegschließen und verdrängen. Kurz nach meiner Volljährigkeit habe ich dann endlich den Absprung aus Berlin geschafft. Ich habe versucht, vor mir wegzulaufen, ohne zu erkennen, dass mein verschlossenes Päckchen namens Vergangenheit immer mitläuft. Umziehen wurde mein neues Hobby. Immer, wenn mir jemand zu nahe gekommen ist, wenn ich so etwas wie Vertrauen hatte, bin ich umgezogen. Ich lernte meine damalige Freundin kennen und lieben. Eines Tages meinte sie: „Lass uns doch zusammenziehen.“ Und da habe ich zum ersten Mal gesagt: „Das geht nicht.“ Sie sagte: „Kann ich verstehen, ist für mich auch nicht einfach, weil … ich wurde als Kind missbraucht, mein Vater war das.“

Das war ein Gefühl! Wie ein Freiflug von 3.000 Meter Höhe direkt auf die Bordsteinkante. Buff. Ich bin nicht allein. Da habe ich zum ersten Mal darüber geredet. Ich hatte Glück, dass ich in der Folge an gute Therapeuten geraten bin. Das war eine harte Zeit, den Weg musste ich mir selbst erarbeiten. Aber ich war sehr froh, dass sie sich auskannten und mich so genommen haben, wie ich bin. Später ist dann die Website entstanden. Ich stellte einen kleinen Trailer zum Thema Kindesmissbrauch ins Netz. Der schlug ein wie eine Bombe. Es kamen sehr viele Anfragen: „Gibt es da noch mehr? Kriegen wir Infos?“ Aber auch Aussagen wie: „Ich dachte, ich wäre die einzige, nur mir allein würde es so ergehen.“ So gründeten wir einen Verein.

Mir liegt auch etwas an Aufarbeitung. Also an tatsächlicher Aufarbeitung. Das Motto „Geschichten, die zählen“ ist gut und schön, aber nur mit Geschichten kann ich keine Aufarbeitung machen. Ich finde es wichtig, wenn man die gesamtgesellschaftlichen Strukturen dahinter erkennt, die vor fünfzig Jahren schon bestanden haben und die teilweise heute immer noch bestehen. Vertrauen aufzubauen, ist heutzutage immer noch schwer. Aber ich habe für mich irgendwann eine Erkenntnis gewonnen: Wenn ich meiner Vergangenheit die Macht über die Gegenwart gebe, gebe ich meinen Tätern von damals die Macht über mich und meine Zukunft. Und das will ich nicht.