Ich bin ganz normal bei Mama und Papa in einem Ost-Berliner Plattenbauviertel aufgewachsen. In der DDR sollten alle Kinder mit sechs Jahren in die Pionierorganisation. Da wir kirchlich waren, hat mein Vater bei meiner Einschulung gegen alle Instanzen der Schule durchgesetzt, dass ich als Einziger der Klasse nicht zu den Pionieren musste.

Eigentlich war es für mich eher eine Bestrafung, weil es ein Ausgeschlossensein bedeutete. So kam es, dass die Lehrer an Pioniernachmittagen sagten: „Na, du bist ja kein Pionier. Dann geh doch runter zum Hausmeister und helfe ihm in der Werkstatt.“ Am Anfang fand ich es ganz interessant. Der Hausmeister hat mir relativ schnell das Gefühl vermittelt: Ausgeschlossensein ist nicht schlimm, du kannst ja mir helfen und bist mein Assistent, mein Junge an meiner Seite. Irgendwie hatte ich schnell dieses Gefühl, ich habe da eine Aufgabe, die ist fast viel schöner als zur ollen Ernst-Thälmann-Gedenkstätte zu gehen und irgendwelche Blumen niederzulegen.

Die sexuellen Übergriffe haben ganz langsam angefangen. Heute weiß ich, dass dies häufig so ist. Erst mal nur ein bisschen Raufereien und so liebevoll rumkabbeln. Und dann auch mal dabei irgendwelche Stellen berühren, wo man vielleicht nicht unbedingt berührt werden möchte. Aber ich habe mir damals überhaupt nichts dabei gedacht. Irgendwann kam das Thema Fotografieren ins Spiel: „Kann ich mal, wenn du da so mit freiem Oberkörper stehst, kann ich mal ein Foto von dir machen an der Werkbank? Oh, das ist total cool, wie das aussieht.“ Ich fand das dann toll. Oh ja, der fotografiert mich. Ich habe gar nicht geschnallt, wie langsam die Grenzüberschreitungen stattgefunden haben, als er dann auch im Freibad fotografieren wollte. Zu diesen Freizeitaktivitäten war ich immer mit ihm allein. Das hat mir das Gefühl gegeben: Ich bin was Besonderes. Es war ganz ausgeklügelt, dieses System. Manchmal sind wir an Wildbadestellen gegangen, wo es FKK gab. Dann kam von ihm: „Du kannst dich doch auch nackt machen, brauchst dich nicht schämen. Guck mal, die liegen doch alle nackt.“ Und dann hat er mich so fotografiert. Das wurde immer normaler für mich: Na da ist ja gar nichts dabei, wenn er mich nackt sieht.

Die ersten wirklichen Übergriffe mit Oralverkehr haben mich schon total aus dem Konzept gebracht. Ich habe mich gefragt, ob das so sein soll, was da gerade abläuft. Aber zu dem Zeitpunkt war das Verhältnis bereits sehr vertraut und ich dachte, auf der einen Seite tut er mir Gutes, und dann sind da Sachen, die ich machen muss, die ich nicht so gerne mache. Das lernt man als Kind eh, auch in der Schule. Weil das für mich trotzdem sehr verwirrend war, habe ich meiner Mutter davon erzählt. Ich hatte zu meiner Mutter einen guten Draht, auch wenn es nicht immer einfach war. An manchen Tagen war sie erdrückend emotional und ich war ihr geliebter Sohn. An anderen Tagen war sie sehr abweisend. Irgendwie gab es da keine Regel. Als Kind wusste ich nicht, dass sie ein Alkoholproblem hatte. An dem Tag, als ich ihr das erste Mal von den Übergriffen erzählt habe, ist sie leider völlig darüber weggegangen. Sie betonte nur das Positive: „Na, ist doch schön, dass der was mit dir unternimmt und mit dir die Freizeit gestaltet und sogar unter der Woche in den Tierpark geht. Da hätten wir gar keine Zeit. Wir müssen arbeiten in der Woche.“ Da ist mir endgültig klar geworden: Na ja, gut, es gibt halt Dinge im Leben, die musst du machen, ob du willst oder nicht. Es ist normal.

Zwei Jahre ging das so weiter in der Schule. Als ich nach den Sommerferien in die Schule kam, war der Hausmeister plötzlich weg. Auf meine Nachfragen bei Lehrern hieß es nur: „Es gab da Vorfälle, der hat sich hier an der Schule nicht korrekt verhalten.“ Ich wusste nicht, ob die Erzieher wissen, dass ich von dem angefasst wurde. Ich wollte immer wissen, wo ist der. Ich wollte den wiedersehen. Aber man hat mir keine Auskunft gegeben. Ab der dritten Klasse hatten wir Schwimmunterricht. Und nun kommt etwas, das ist für mich bis heute völlig unverständlich: Er wurde als Hausmeister von der Schule einfach nur in die Schwimmhalle versetzt. Und dann genau in die Schwimmhalle, zu der die Schule zum Schwimmunterricht ging, an der er vorher gearbeitet und es die Vorfälle gegeben hatte. Es ist mir aus heutiger Sicht unbegreiflich, wie die DDR-Behörden gearbeitet haben. Ich dachte nur: Ach, da ist er ja wieder. Und bin freiwillig auf ihn zugegangen und wir haben uns für Nachmittage verabredet. Er wartete am Schultor auf mich und wir zogen rum. Das ging bis zu meinem zehnten Lebensjahr, also bis zur Wende.

Bei unseren Aktivitäten hatte er auch immer mal wieder andere Männer dabei: „Guck mal, ich habe hier mal einen Kumpel mitgebracht, wir gehen heute mal zu dritt ins Freibad.“ So hat er mir nach und nach Männer vorgestellt, die aus West-Berlin kamen und von der Art ähnlich waren. Die waren alle um mich sehr bedacht. Die wollten immer nur mein Wohl. Die haben sich darum gerissen, mir ein Eis auszugeben. Ich war der goldene Mittelpunkt und habe es fast genossen. Ich habe diese sexuellen Übergriffe nach vier Jahren schon als so normal empfunden, dass ich dachte: Augen zu und durch. Manchmal stand einer von den anderen am Schultor und sagte: „Du, der Hausmeister kann heute nicht. Aber wenn du Lust hast, wir können ja was unternehmen.“ Zu Anfang waren es immer drei, vier verschiedene Leute. Der Kreis war eine Art Netzwerk, was ich aber damals als Kind nicht so eingeordnet konnte. Es waren für mich lose Bekannte, Freundschaften mit irgendwelchen Onkeln, mit denen ich meine Freizeit verbringe.

Ich wurde immer mehr zum Einzelgänger. DDR-Kinder sind Anfang der 1990er in so ein Loch gefallen. Dieses betreute DDR-System, in dem Kindern genau gesagt wurde, wie es abläuft, gab es nicht mehr. Wir haben in unserer freien Zeit nur blöd auf Spielplätzen rumgehangen. Da war das, was ich mit den Männern unternehmen konnte, irgendwie interessanter. Mein Vater wurde arbeitslos und es hieß: „Wir haben kein Geld mehr. Wir müssen gucken, dass wir uns das noch leisten können. Ich kann dir nichts mehr bieten.“

Die Männer brachten mich in ein Haus am Rande der Stadt. Für ein DDR-Kind war das ganz toll: In der großen Villa gab es einen Videorecorder, du kannst ein Video einlegen und kannst Filme gucken. Was auch angenehm war: Da waren plötzlich andere Jungs. Man konnte zusammen abhängen. Im Nachhinein muss ich heute sagen, war das nichts weiter als ein Jungen-Bordell. Ich hatte irgendwann den Überblick verloren. Es kamen Männer von außerhalb, die ich nicht kannte. Einer von den Vertrauten sagte dann zu mir: „Du, heute ist hier der XY aus der und der Stadt zu Gast. Und der hätte Lust, dich zu treffen.“ Dann ist man wieder aufgestanden und in eines der Zimmer in der zweiten Etage. Dass es zu dieser Zeit schon Richtung Prostitution ging, war mir nicht bewusst. Den Begriff gab es für mich gar nicht.

Die Gesellschaft ist noch zu wenig sensibilisiert.

Ich erinnere mich an einen Typen, der eine Yacht in West-Berlin hatte, zu der wir öfter mit zwei, drei Jungs rausgefahren sind, die zwischen zehn und 15 Jahre alt waren. In der Kajüte kam es auch zu Übergriffen, aber es war in erster Linie Freizeit und für mich war es dieses Bild vom reichen, schönen, bunten Westen. Nach einer Weile wurde mir nach den sexuellen Übergriffen Geld zugesteckt. Zu Anfang war ich dieser bescheidene 13-jährige Junge, der sagt: „Nee, kannst du doch nicht machen. Ach, 20 Mark?“ So war ich erzogen. Aber umso mehr man von den Männern zugesteckt bekommt, desto mehr wird es wieder Normalität und man freute sich sogar. Damit war der Einstieg in die Prostitutionsgeschichte gekommen.

Als ich 14 Jahre wurde, brachte mich einer von den Männern zum Bahnhof Zoo und sagte: „Du könntest noch viel mehr Geld damit machen.“ Er hat mir die Bahnhofshalle und die Kontaktaufnahme zwischen den Jungen und Freiern gezeigt: „Guck mal, achte mal auf den Jungen. Jetzt geht der Junge auf den Mann zu.“ Da habe ich diese Begriffe zum ersten Mal gehört. Mir wurde klar, aha, das nennt sich Prostitution, wenn man dafür Geld kriegt. Er hat mir diese ganze Stricher-Szene vorgestellt und den Kontakt zu Freiern vermittelt. Ich hatte das Gefühl, dass er die nicht eben erst kennengelernt hat, sondern dass sie sich schon lange kannten. Es gab definitiv ein System, er hatte mehrere Jungen, die er dort betreut hat. Betreut klingt blöd, aber so hat er es genannt. Von dem Geld bekam er 70 Prozent.

Da ich noch zur Schule ging, sagte er: „Lass dich hier am Bahnhof Zoo wenigstens zwei Mal die Woche sehen. Besser ist drei Mal.“ Da war schon ein gewisser Zwang. Es gab in dem Sinne keine Drohung: „Ich knalle dich ab, wenn du nicht kommst.“ Darüber wurde nie offen gesprochen. Aber ich war so auf dieses ganze System getrimmt, dass ich mich gar nicht groß getraut hätte, es zu hinterfragen: Was passiert denn, wenn ich nicht komme? Obwohl es keine offenen Drohungen gab, war es ein Gefühl der Angst. Mit diesem Einstieg am Bahnhof Zoo wurde mir klar: Es läuft alles schief. Ich fing an Alkohol zu trinken. Du kannst überhaupt nur Freier schaffen, wenn du Alkohol vorher trinkst.

Manchmal kamen Vertraute aus der Villa an den Bahnhof. Da ist für mich diese Hoffnung aufgekeimt, jetzt könnte erst mal was Schönes passieren. Vielleicht fahren wir raus. Aber diese Freizeitaktivitäten haben dann nicht mehr stattgefunden.

Ich erinnere mich an einen Polizeibeamten, der für den Bahnhof zuständig war. Er hat sich öfter erkundigt und nachgefragt, wer denn die Männer wären, die hier das Sagen haben. Ich habe mich gehütet nur irgendjemanden zu benennen. In meinen ersten Jahren am Bahnhof Zoo wurde ich nie von irgendeinem Polizisten auf ein Hilfsangebot hingewiesen. Das Einzige, womit sie gearbeitet haben, war ein Hausverbot. Manchmal sammelten sie uns minderjährige Jungs ein und fuhren uns an den Stadtrand. Sie setzten uns aus und sagten: „So, und am Bahnhof wollen wir euch erst mal eine Weile nicht mehr sehen.“ Das war damals die Art des Kinderschutzes, dass man die Kinder einfach so weit wie möglich wegbringt.

Seit ich zehn war, hatte ich Diabetes und war häufig im Kinderkrankenhaus, weil ich Schwierigkeiten mit dem Blutzucker hatte. Das habe ich teilweise bewusst manipuliert, sodass der Arzt dann gesagt hat: „Oh Gott, dein Wert ist so hoch, ich kann dich nicht nach Hause entlassen, ich muss dich erst mal stationär einweisen.“ Wenn ich ins Kinderkrankenhaus aufgenommen wurde, war ich vor diesen ganzen Leuten sicher. Sieben Jahre lang, zwischen meinem zehnten und 17. Lebensjahr, war dieses Kinderkrankenhaus wirklich ein Zufluchtsort. Im Kinderkrankenhaus gab es eine Vertrauensschwester, die sich immer wieder Zeit genommen hat für mich und sich mit mir hingesetzt hat. Da habe ich zum ersten Mal erzählt, was in der Schule mit dem Hausmeister passiert ist. Aber ich hätte mich um Gottes Willen zu dem Zeitpunkt gehütet, den ganzen weiteren Werdegang zu erzählen, sodass sie wahrscheinlich keinen akuten Grund zum Handeln sah. Sie war sehr verständnisvoll. Aber leider hat sie nicht gesagt: „Oh, da müssen wir mal mit deinen Eltern drüber reden.“

Als ich älter wurde, sagte der Zuhälter: „Verdien jetzt dein eigenes Geld. Du bist eigentlich zu alt. Ich kriege immer weniger Männer, die dich überhaupt noch haben wollen.“ Mit meinem 18. Geburtstag haben diese Männer mich dann fallen gelassen. Dann habe ich gemerkt, es gibt ja nicht pädophile Freier, die auch einen volljährigen Jungen wollen. Was mir zum Verhängnis wurde, weil ich mich so komplett in diese selbstständige Prostitution rein begeben habe. Mit 16 Jahren habe ich den Realschulabschluss geschafft und mich entschieden, eine Ausbildung als Erzieher anzufangen. Ich bin weiter freiwillig zum Bahnhof Zoo gegangen, während meiner Ausbildung teilweise sogar täglich. Dann kam das Anerkennungsjahr, das fünfte Ausbildungsjahr, in dem ich mit Kindern im Hort gearbeitet habe. Meine damalige Lehrerin merkte, dass ich überfordert bin und hat gefragt: „Was ist denn los?“ Sie war verständnisvoll und ich habe angefangen aus dieser frühen Kindheitsgeschichte mit dem Hausmeister zu berichten. Sie war die erste Person, der ich dann auch erzählt habe, wie mein aktueller Zustand aussieht. Sie gab mir die Adresse einer Anlaufstelle für Jungen, die anschaffen gehen. Und das hat mein Leben verändert.

Als am Bahnhof Zoo ein Streetworker dieser Anlaufstelle auf mich zukam, dachte ich: Aha, das hat doch die Lehrerin empfohlen. Und das war der Anfang vom Ende der ganzen Geschichte. Ich habe über viele Jahre mit dem Gründer des Vereins eng zusammenarbeitet. Er hat mich intensiv betreut und mir bei allen weiteren Themen geholfen. Das Aussteigen aus der Szene, das ging nicht einfach von heute auf morgen.

Während dieser Zeit sah ich eines Abends die Berliner Nachrichten. Plötzlich wurde berichtet, dass mehrere Leute verhaftet wurden, die schon seit den 1990er-Jahren in Berlin rund um den Bahnhof Zoo eine Art Kinderhandelsring betrieben hätten. Da wurde mir rückwirkend klar, dass ich wahrscheinlich schon mit zehn Jahren vom Hausmeister den Männern aus diesem organisierten Netzwerk vorgestellt wurde. Erst nach und nach habe ich mitgekriegt, wie groß dieser Ring gewesen ist. Da bin ich noch einmal zusammengebrochen. Mir ging es schlecht und ich hatte Flashbacks. Wenn ich wusste, an diesem U-Bahnhof hat es einen Freier gegeben, der mir mal großes Leid zugefügt hat, mied ich fortan diesen U-Bahnhof. Das wurde für mich immer schwieriger, denn es gab überall Orte, an denen ich negative Erinnerungen hatte. Schließlich machte ich Therapien und habe dadurch Stück für Stück mein Leben aufgearbeitet.

Heute bin ich ausgebildeter Erzieher und in einem Verein beschäftigt, der Jungen und jungen Männern hilft, die sexuelle Gewalt erlebt haben. Ich bin echt stolz, dass ich damals die Erzieherausbildung geschafft habe. Das habe ich dieser Berufsschullehrerin zu verdanken, der ich mich damals anvertraut habe. In meiner Kindheit hat die Institution Schule bei mir total versagt. Ich bin davon überzeugt: Wenn mein Umfeld in der Kindheit anders gewesen wäre, dass ich durchaus bereit gewesen wäre mich zu öffnen. Wir haben jetzt ein neues Projekt gegründet. Wir arbeiten mit angehenden Lehrkräften zusammen. Was ist sexuelle Gewalt? Wie kann man als Lehrkraft erkennen, wenn ein Kind traumatisiert sein könnte und wie erreichen wir Kinder, die aufgrund ihrer Traumatisierung nur schwer dem Unterricht folgen können? Dazu ist die Gesellschaft noch viel zu wenig sensibilisiert, und das möchte ich ändern.