Die Geschichten auf diesem Portal enthalten Schilderungen, die verstörend wirken können. Einige Worte oder Beschreibungen können negative Erinnerungen und unangenehme Gefühle auslösen. Falls Sie das Bedürfnis haben, mit jemanden darüber zu sprechen, nutzen Sie bitte die Angebote zur Beratung & Hilfe.
Es fing etwa im Alter von neun bis zehn Jahren an. Ich wuchs in der neuapostolischen Kirche auf, die damals noch als Sekte galt, heute leider nicht mehr.
Meiner Meinung nach haben sich die Strukturen dort nicht wesentlich geändert. Frauen werden Gehilfin genannt, man könnte auch Sklavin sagen. Mädchen haben kaum Rechte. Das Umfeld ist männerdominiert und Sexualität wird stark unterdrückt. Distanzlosigkeit, Übergriffe und Vertuschung sind die Regel. Ich wurde ständig von Glaubensgeschwistern oder Amtsträgern angefasst. Noch als Erwachsene haben mir Mitglieder zur Begrüßung auf den Po geklopft oder mich einfach geküsst. Mir wurde bei Ausflügen Wasser über die Bluse gekippt, damit man meine Brüste besser sehen konnte. Es kam zu mehrfachem Missbrauch im Familienkreis und versuchter Vergewaltigung durch Amtsträger. Dazu gab es viel Gewalt. Zucht und Ordnung waren die Regel, aber immer nett verpackt, alles wäre nur aus Sorge und aus Liebe. Die Worte wurden so lange verdreht, bis man nicht mehr wusste, was richtig oder falsch war. Kinder, die nicht ruhig sitzen wollten, wurden im Heizungskeller während der Gottesdienste von den Eltern verprügelt, bis sie erbrochen haben.
Ich habe versucht, erste Übergriffe vorsichtig anzusprechen. In der Familie hieß es dann nur: Ach der ist harmlos, den brauchst Du nicht ernst nehmen. Einer der Amtsträger sagte mir, dass er mir nicht glaube, ich würde mich nur wichtigmachen und außerdem wolle er das gar nicht hören. Irgendwann dachte ich, das ist alles richtig und normal. So habe ich nichts mehr gesagt. Die Mitglieder wurden in der Gruppe gehorsam und hörig gehalten. Von der sozialen Außenwelt waren wir isoliert. Und das Schlimmste war, dass alle sich dort so wohl und glücklich fühlten. Weltliche Organisationen sollten wir meiden. Mir wurde geraten, ich solle mehr beten und an mir arbeiten. Das wäre alles eine Prüfung oder eine Strafe des Himmels. Wenn es mir dadurch nicht besser ginge, hätte ich noch nicht meine Lektion gelernt und solle mehr beten und gehorchen. Ab dem zehnten Lebensjahr unternahm ich mehrere Suizidversuche, die fehlgeschlagen sind. Das hat niemand bemerkt.
Die Worte wurden so lange verdreht, bis man nicht mehr wusste, was richtig oder falsch war.
Vor drei Jahren habe ich mich mit Hilfe einer Therapie offiziell von der Sekte getrennt. Die Neuapostolische Kirche ist eine Gemeinschaft des öffentlichen Rechts, das bedeutet, Austritte gehen nur über die Stadt. Der plötzliche Realitätseinbruch nach dem Ausstieg war übel. Vor allem, wenn man als Kind nichts anderes kennt, nicht selbständig denken kann. Ich war völlig allein. Es existiert kein offizielles Kontaktverbot zur Familie, aber häufig bleibt einem nichts anderes übrig, als für das eigene Seelenheil den Kontakt zu beenden. Denn man wird mit allen Mitteln, mit Geschrei und Demütigungen zur Rückkehr und Reue aufgefordert. Oder durch übertriebene Fürsorge und love-bombing, die es einem schwer macht, zu gehen.
Echte Gefühle kannte ich viele Jahre nicht und war dann davon völlig überwältigt. Ehemalige Sektenkinder haben andere Traumatisierungen, weil sie kein Leben außerhalb der Sekte kennen. Sie müssen sich ganz neu mit Kleidung, Sprache und Sozialverhalten auseinandersetzen. Ich finde es sehr problematisch, dass die Sekte als harmlos gilt. Sie ist nicht mehr so extrem, wie in meiner Kindheit, doch harmlos ist sie definitiv nicht. Die Lebensumstände für Kinder in solchen sogenannten Freikirchen sind unerträglich, selbst wenn alle so friedlich aussehen. Es ist nicht nur der Missbrauch und die Gewalt. Dieser seelische und geistige Missbrauch ist sehr zerstörerisch und schwer zu therapieren. Ich leide unter einer Posttraumatischen Belastungsstörung, an Essstörungen und Panikattacken bis hin zum Erbrechen. Ich habe Alpträume mit Atemnot, soziale Ängste und Depressionen. Aussteiger-Therapeuten sind rar. In einer konventionellen Therapie habe ich viele Stunden verloren mit Erklärungen über die Wirkweise der Sekte und der Gruppendynamik. Dazu gibt es zu wenig offizielle Anlaufstellen für Aussteiger. Die kirchlichen Sektenbeauftragten wollte ich nicht aufsuchen, aus Angst in eine neue kirchliche Abhängigkeit zu geraten.
Leider wird hier zu wenig unternommen, weil die Politik vor dem Paragraph der Religionsfreiheit zurückschreckt. Aber Religionsfreiheit hört meiner Meinung nach da auf, wo Rechte und die Freiheit anderer Menschen beschnitten werden.
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