Heute bin ich 70 Jahre alt. Das, wovon ich berichten möchte, geschah, als ich elf Jahre alt war und die 5. Klasse besuchte. Es beschäftigt mich noch heute.

Ich nahm in den Ferien an einer Freizeit mit vielen Kindern unterschiedlichen Alters in einer Jugendherberge teil. Der Sportlehrer meiner zukünftigen Schule und seine Frau begleiteten uns. Er war klein, weißhaarig und schon recht alt. Die Freizeit gefiel mir sehr gut. Wir spielten im Freien und abends sangen wir gemeinsam am Lagerfeuer. Ich war sehr sportlich orientiert und hatte viel Freude an den Unternehmungen. Dass der Sportlehrer die Nähe zu mir suchte, fiel mir nicht auf.

Als ich dann auf das Gymnasium kam, kannte ich den Sportlehrer schon. Er wusste von mir, dass ich gern ein Fahrrad gehabt hätte, aber meine Eltern hielten mich noch für zu jung, um selbst mit dem Fahrrad umherfahren zu können. Eines Tages sprach mich der Sportlehrer auf dem Schulgelände an. Er sagte, dass seine Frau, die ich ja auch kannte, heute Geburtstag habe und sie mich einladen möchte. Es wäre doch schön, wenn ich mit ihm nach der Schule einen Blumenstrauß pflücken würde. Ich könnte auch mit seinem Fahrrad fahren. Auf meinen Einwand, dass das nicht ginge, weil meine Eltern sich sorgen würden, wenn ich nicht direkt nach der Schule nach Hause käme, sagte er, dass er meinen Eltern Bescheid gesagt habe und sie nichts dagegen hätten, mit ihm zu gehen. Ich vertraute dem Sportlehrer und freute mich auf den kleinen Ausflug und über die Geburtstagseinladung.

Ich fuhr mit seinem Fahrrad neben ihm in Richtung eines Wäldchens. Dort angekommen, schlug er vor, uns ins Gras zu setzen. Weiter schlug er vor, dass ich ihm doch einmal zeigen solle, wie toll ich einen Handstand machen könne. Ich habe ihm daraufhin geantwortet, dass ich das nicht wolle, weil ich kein Turnzeug, sondern nur ein Sommerkleid anhätte. Er sagte, das mache doch nichts. Ja, und plötzlich überkam mich ein ganz komisches Gefühl. Als ich neben ihm saß, hatte er einen ganz fremden, starren Blick. Als er mir dann einen Bonbon anbot, fürchtete ich, er wolle mich vergiften und ich warf ihn heimlich weg. Ich wollte einfach nur nach Hause. Plötzlich fing er an, in meine Unterhose zu greifen. Ich sagte ihm, er solle das lassen, ich wolle das nicht. Wenn er nicht aufhöre, würde ich laut schreien.

Zu meinem Glück kam ein älteres Ehepaar vorbei. Ich ging davon aus, dass sie mir helfen würden, wenn er mich weiterhin berühren und mich daran hindern würde, zur Schule zurückzukehren. Er ließ von mir ab und ließ mich gehen. Zu Hause angekommen, war ich noch immer völlig durcheinander. Ich konnte gar nicht verstehen, was der Mann getan hat. Ich kannte ihn doch und hatte Vertrauen zu ihm. Ich wollte einfach nur Fahrradfahren und Blumen pflücken. Ich war völlig unbedarft und unvorbereitet.

Ich bin meinen Eltern noch immer sehr dankbar.

Zu Hause erwarteten mich heftige Vorwürfe, denn meine Eltern waren von dem Sportlehrer nicht informiert worden, dass ich später käme. Er hatte mich angelogen. Aus Scham wollte ich meinen Eltern nicht erzählen, was passiert war, aber sie ließen nicht locker. Schließlich schilderte ich ihnen alles. Meine Eltern riefen den Schulleiter an und berichteten ihm, was ich ihnen erzählt hatte. Sie verlangten eine sofortige Klärung. Der Schulleiter willigte zwar ungern, aber auf Drängen meiner Eltern letztlich doch ein, dass ein Gespräch stattfand. Am nächsten Tag musste ich im Zimmer des Schulleiters im Beisein meiner Mutter und des Sportlehrers noch einmal alles erzählen. Der Sportlehrer fixierte mich ständig und leugnete, soweit es ihm möglich war.

Meine Eltern forderten den Schulleiter auf dafür zu sorgen, dass der Sportlehrer an der Schule nicht weiter unterrichten dürfe. Die Polizei wurde von dem Schulleiter nicht eingeschaltet, aber der Sportlehrer verließ die Schule. Ein paar Wochen zuvor war in diesem Wäldchen ein 10‐jähriges missbrauchtes Mädchen tot aufgefunden worden. Der Mörder wurde bis heute nicht gefunden. Wäre das Ehepaar damals nicht zufällig vorbeigekommen, wäre ich dort vielleicht auch umgebracht worden? Das frage ich mich bis heute. Später habe ich meinem Ehemann und seinem Bruder von dem Erlebnis erzählt. Beide waren in dem Sportverein, in dem der Sportlehrer tätig war. Dort war bekannt, dass der Besagte in dem Ruf stand, seine Hilfestellungen bei sportlichen Übungen auszunutzen, um Mädchen unangemessen zu berühren.

Ich bin meinen längst verstorbenen Eltern noch immer sehr dankbar. Wie wäre es mir ergangen, wenn meine Eltern nicht von meinen Geschwistern und mir immer wissen wollten, wohin wir gehen, und nicht verlangt hätten, dass wir zur vereinbarten Zeit zurückkommen? Weil ich an dem besagten Tag nicht direkt nach Schulschluss zu Hause ankam, wurde ich gedrängt zu sagen, wo ich gewesen sei. Hätten sie nicht auf mich eingewirkt und wäre es ihnen egal gewesen, wann ich nach Hause komme, hätten sie und auch die Schule wahrscheinlich nie erfahren, was mir passiert war. Der Sportlehrer hätte weiterhin Kinder missbraucht und ich hätte ihm in der Schule täglich voller Angst begegnen müssen. Wenn Eltern sich für den Umgang ihrer Kinder interessieren und die Einhaltung von Vereinbarungen erwarten, ist das für mich keine autoritäre Kontrolle, sondern ein Ausdruck von Verantwortung für und Sorge um das Kind.