Mitte der 1990er-Jahre kamen einige Mädchen der sechsten Klasse zu mir und erzählten mir erzürnt, dass ein Sportlehrer ständig bei ihnen in der Umkleide erscheine – immer am Ende der Pause, wenn sie gerade beim Umkleiden für den Sportunterricht seien. Am Anfang sei es nur alle vier Wochen passiert, aber mittlerweile käme es mindestens einmal pro Woche vor. Ich war damals sowohl als Fachlehrer wie auch als Beratungslehrer an einem Gymnasium tätig. Beratungslehrer beraten Schüler, Eltern, Lehrer und Schulleitungen bei schulischen Fragestellungen.

Die Schülerinnen betonten, sie hätten es ihm auch schon direkt gesagt: „Wir möchten nicht, dass Sie zu uns in die Umkleide kommen.“ Er hätte einfach gelacht und ihre Bitte ignoriert. Sie hätten sich an ihre Klassenlehrerinnen gewandt. Die hätten gemeint, sie sollen sich nicht so haben. Das passiere halt mal aus Versehen. Auch von ihren Eltern wurden sie nicht ernst genommen. Obwohl ich mir ein solches Verhalten des durchaus beliebten Sportkollegen überhaupt nicht vorstellen konnte, versprach ich, mich um ihr Anliegen zu kümmern. Bei den Klassenlehrerinnen wurde ich genauso abgewiesen wie die Mädchen. Ein Elternpaar glaubte zwar ihrer Tochter, meinte aber, da könne man nichts machen.

Um den Kollegen zu konfrontieren, musste ich eindeutige Beweise haben. Also versteckte ich mich zu Beginn einer kleinen Pause vor einer Sportstunde in einem der geöffneten Geräteräume, die den sechs Umkleidekabinen gegenüberliegen. Im Zweifelsfall konnte ich ein „Aufräumen“ vortäuschen. Dieses Verhalten wurde mir später von einer Sportkollegin als hinterlistige Spionage vorgeworfen. Die geraden Nummern der Umkleidekabinen sind für die Jungen, die ungeraden für die Mädchen reserviert. Ich musste beobachten, was ich eigentlich nicht sehen wollte: Der Lehrer ging ohne anzuklopfen in die Kabine für Mädchen, sagte „Oh, Verzeihung“ und ging wieder hinaus. Er ging an der Jungenkabine vorbei, trat einen Schritt in die nächste Mädchenkabine und entschuldigte sich wieder. Ich wollte meinen Augen nicht trauen. Aber ich hatte genau das gesehen, was die Mädchen mir berichtet hatten und was ich eigentlich nicht für möglich gehalten hatte. Der Lehrer nutzte seine Machtposition gegenüber schutzbefohlenen Schülerinnen aus.

Ich versuchte, ruhig zu bleiben. Dennoch musste ich reagieren. Ich wollte die Konfrontation mit dem Kollegen, mit dem ich bisher immer gut ausgekommen war, nicht alleine durchführen, sondern mit einer Zeugin. Ich ging ins Lehrerzimmer und erzählte einer engagierten Kollegin meine Beobachtungen. Sie reagierte entsetzt: „Das kann ich nicht. Da bin ich überfordert.“ Eine andere Kollegin war bereit, mit mir zusammen das Gespräch zu führen. Wir baten ihn in das Besprechungszimmer, und ich versuchte möglichst sachlich, ihn auf sein Fehlverhalten hinzuweisen. Er reagierte cholerisch: Ich würde doch wohl spinnen. Die Mädchen liefen ja auch „oben ohne“ im Freibad rum, was ich bezweifelte. Ich versuchte zu argumentieren, dass es einen Unterschied mache, ob Mädchen sich freiwillig halbnackt zeigen oder ob sie in der Umkleide von einem Mann belästigt werden. Mit sich überschlagender Stimme verließ er den Raum.

Du machst den Ruf unserer Schule kaputt.

Wir waren bestürzt. Wie konnte jemand so uneinsichtig sein? Da blieb auch uns nur noch der Weg zur Schulleitung. Doch auch die Leitung glaubte mir nicht trotz meiner Beteuerung, dass ich alles mit eigenen Augen gesehen hatte. „Das kann nicht sein. Er würde so etwas niemals machen. Du bist bei diesem Thema einfach übersensibilisiert.“ Und dann kam ein sehr verletzender Vorwurf: „Du machst den Ruf unserer Schule kaputt.“

Eine Woche später wurde dann eine Konferenz anberaumt. Dieses Treffen wurde zur schmerzlichsten Erfahrung meiner gesamten Zeit als Lehrer. Es belastet mich noch heute. In der gesamten Besprechung wurde der eigentliche Anlass, das Spannen eines Lehrers in den Umkleidekabinen der Mädchen überhaupt nicht angesprochen. Es ging die ganze Zeit nur darum, dass ich angeblich einen Formfehler begangen habe: Ich hätte nicht die Kollegin ansprechen dürfen. Ich wurde von der Schulleitung aufgefordert, mich bei dem Lehrer für diesen Fehler zu entschuldigen. Das habe ich dann total verwirrt auch getan. Ich verstand die Welt nicht mehr. Da hatte ich versucht, einen Kollegen auf sein Fehlverhalten aufmerksam zu machen, auch um ihn vor schwerwiegenden Konsequenzen zu schützen. Und nun war ich angeblich der Schuldige.

Ähnlich schlimm waren für mich die Nachgespräche mit dem Personalrat. Eine fragte, ob mir bewusst sei, dass ich sein Leben hätte zerstören können. Die zweite Person war der Meinung, ich sei in erster Linie Kollege und erst danach Anwalt der Schülerinnen. Meine Antwort war: „Es ist durchaus kollegial, Fehlverhalten von Kollegen anzusprechen. Unkollegial ist es, solche Vorgänge zu ignorieren und unter den Teppich zu kehren.“ Es gab Kolleginnen, die wegen dieser Angelegenheit für einige Zeit jeden Kontakt mit mir verweigerten. Ich brauchte mehrere Monate, bis ich mich wieder unbefangen im Lehrerzimmer bewegen konnte.

Ohne die Unterstützung meiner Frau hätte ich wohl diese Erniedrigung nicht verkraftet. Ich suchte mir auch Hilfe bei der Psychologin einer Beratungsstelle. Immerhin hatte ich erreicht, dass das Spannen in der Mädchenumkleide sofort aufhörte, wenn auch zu einem hohen Preis. Bei den Mädchen dürfte wohl Folgendes geblieben sein: Ein „Nein“ wird nicht immer gehört. Aber wenn man mehrfach den Mut hat, sich Hilfe zu holen, wird einem vielleicht doch geglaubt, und es ändert sich etwas.