Meine Eltern waren beide Architekten und sehr zielstrebige Menschen. Es lautete die Devise: Schule zuerst. Mein Vater war oft als Bauleiter draußen unterwegs, Mutti war immer zu Hause, immer zeichnen, immer die Familie managen – das heißt, mich und meinen jüngeren Bruder. Ich trainierte sehr viel und nutzte die wenige Freizeit, um zu lernen. So kam ich gut durch die Grundschulzeit.

Auf dem Gymnasium war der schulische Anspruch ein ganz anderer. Durch die hohe Erwartungshaltung meiner Eltern hatte ich nicht mehr das Gefühl, mit ihnen über alles reden zu können. Das galt vor allem für meine Mutti, auf die ich als Kind ziemlich fixiert war.

In meinem Vertrauenslehrer fand ich dann jemanden, der mir uneingeschränkt zuhörte und mit dem ich auch über Probleme sprechen konnte. Er unterrichtete mich in Mathe und Kunst. Er hat uns Kinder immer zu sich geholt, um mit uns über unsere Entwicklung zu sprechen. Die Gespräche fanden in einem separaten Kunstraum statt, während die anderen nebenan arbeiteten.

Als er anfing, mich zu umarmen, habe ich mir nichts dabei gedacht. Irgendwann hat er einen Brief an meine Eltern geschickt. Ich sei so ein tolles Kind und er wolle sie gern kennenlernen.


Meine Eltern haben sich prima mit meinem Vertrauenslehrer verstanden und willigten ein, dass ich mit zu ihm nach Hause darf.

Ich war zu dem Zeitpunkt elf oder zwölf. Als ich ihn besuchte, hat er sich einfach auf mich gelegt und rumgewurschtelt. Ich hatte gar nicht verstanden, was da passiert. Bis dahin hatte ich noch keinen sexuellen Kontakt. Nachdem er fertig war, gingen wir in das Nebenzimmer, in dem ein Bild mit einer knalligen Blume vor einem grünen Hintergrund hing. Er fragte: „Was sagt dir dieses Bild? Erzähl doch mal.“

Meiner Mutter habe ich danach gesagt, dass ich da nie wieder hin will. Das hat sie so akzeptiert. Ich bin die ganze Zeit weiter zur Schule gegangen und irgendwie durchgekommen. Der Lehrer ging in Pension. Erst auf einer Schulfeier begegnete ich ihm erneut, was mir den Anstoß gab, die Schule zu wechseln. Ich habe mich selbst um einen Platz an einer Gesamtschule gekümmert.

Mit 16 hatte ich meine erste Freundin, doch mein Selbstbild hatte gelitten. Ich träumte immer wieder davon, auf dem Dach rumzuspazieren und an der Kante zu stehen. Schließlich fing ich an Marihuana zu rauchen. Erst ein bisschen und dann immer regelmäßiger.


Obwohl ein Disziplinarverfahren eingeleitet wurde, hatte ich das Gefühl, dass es nur darum geht, dass die Schule keinen Schaden nimmt, und dass der Lehrer seine Pensionsansprüche behalten möchte.

Mit Mitte zwanzig machte ich eine Traumatherapie. Seitdem sind viele Dinge nicht mehr da – wie das Bild mit der Blume, das mich lange Zeit nicht losließ. Kurze Zeit später starben sowohl meine beiden Großeltern als auch meine Mutter. Zu alledem lief der Berufseinstieg alles andere als gut; ich bestand meine Probezeit nicht.

In dieser Phase meines Lebens braute sich eine Wut in meinem Bauch zusammen, die mich zu meiner ehemaligen Schule gehen ließ. Auch das Ministerium habe ich über den sexuellen Missbrauch informiert.

Das Verfahren zog sich über drei Jahre. Es war noch ein weiterer Betroffener beteiligt, den ich über Facebook ermitteln konnte. Im Endeffekt hat der übergriffige Lehrer eine Bewährungsstrafe von elf Monaten bekommen und seine Pensionsansprüche verloren. Grundsätzlich fühle ich mich dadurch gehört und kann rechtlich damit abschließen. Was bleibt, ist trotzdem ein gewisser Groll, weil gesellschaftlich alles so weiterläuft wie bisher. Zum Beispiel wünsche ich mir, dass soziale Aspekte ernster genommen werden und Leistung nicht alles ist. Das Streben nach Erfolg macht vieles kaputt.