Ich wuchs in der DDR auf. Im Grunde war meine Familie dysfunktional. Der sexuelle Missbrauch durch einen Lehrer war nur ein Teil des Missbrauchs.

Sowohl meine Mutter als auch mein Vater haben versucht, sich das Leben zu nehmen, und ließen sich früh scheiden. Mein Stiefvater wurde mir gegenüber gewalttätig, als mein Bruder geboren wurde. Er zog an meinen Haaren, trat mich und war zum Teil sadistisch. Ich ging schon mal mit roten Flecken im Gesicht in die Schule.

Als ich sieben Jahre alt war, geschah dann der sexuelle Missbrauch. Ein Lehrer holte mich nach dem Unterricht zurück ins Klassenzimmer, lobte mich und sagte mir, dass ich ganz besonders für ihn sei. Ich war empfänglich für seine Zuneigung, die ich zu Hause nicht erfuhr. Der Lehrer fing an, mich im Intimbereich zu berühren und sich daran zu erfreuen.

Ich wusste, dass es falsch und sehr privat war, auch wenn ich noch kein Konzept von Sexualität hatte. Meine Mutter hatte mir beigebracht, wie die Genitalien heißen, aber auch gesagt, dass man darüber nicht redet. Bei einem Spaziergang habe ich meiner Mutter dennoch von dem übergriffigen Lehrer erzählt. Als ich fertig war, fragte sie: „Was hat der getan?“ und ich wiederholte, was ich gesagt hatte.

Meine Mutter sprach nie wieder mit mir darüber, aber sie wandte sich doch an die Schulleitung. Von der Sekretärin wurde ich dann vor der ganzen Klasse aufgefordert, zur Direktorin zu gehen. Dort saß ich dann, überall riesengroße Menschen – die Direktorin, die Polizei und meine Mutter. Und in der Mitte stand der erste Kassettenrekorder, den ich in meinem Leben gesehen habe.

Dann hat sie gesagt: „Okay, vielen Dank“, und alle haben ganz betreten geguckt und ich wurde zurück ins Klassenzimmer geschickt. Ich bin alleine durch diese dunklen Gänge zurückgegangen und das war’s!

Die Polizistin war schon wirklich sehr bemüht. Doch ich fühlte mich so alleine. Sie fragte: „Hat er dich denn da berührt?“ Ich habe nur genickt, doch das Nicken wurde natürlich nicht aufgezeichnet. Ich musste schon Ja oder Nein sagen, also habe ich „Ja“ gesagt.

Als ich 17 war, bin ich nur knapp einer Vergewaltigung entkommen. Ich war mit Freunden unterwegs und auf dem Weg von der Straßenbahn zum Hochhaus wurde ich von einem Mann bedroht. Zum Glück konnte ich mich wehren und ging zur Kripo. Das war schon sehr befremdlich, denn wieder wurde einfach alles ohne Emotionen aufgeschrieben. Die Gefühle blieben unbearbeitet. Später wurde ich als Zeugin zu einer Gegenüberstellung mit dem Täter geladen. Er hatte mehrere Frauen schwer vergewaltigt und wurde verurteilt.

Mit vierzig habe ich meinem Bruder von dem sexuellen Missbrauch durch den Lehrer erzählt. Ich wusste, dass der Lehrer verurteilt worden war. Woher, kann ich nicht mehr sagen. Meine Mutter, die dabei war, erzählte dann, dass sie sogar zu der Verhandlung gegangen ist, um den Täter zu sehen. Rückblickend würde ich sagen, hat sie alles so gut gemacht, wie sie konnte. Sie hatte nicht mehr Kapazitäten.

Ich arbeite heute als Wissenschaftlerin und finde in der Wissenschaft viel Erfüllung. Allerdings sind mir in meinem Berufsleben immer wieder Männer, aber auch Frauen, begegnet, die ihre Position ausgenutzt und sich missbräuchlich verhalten haben. Das führte zu einigen Brüchen in meiner Laufbahn. Jetzt unternehme ich einen letzten Versuch, meine Habil abzuschließen.

Mit meinem Partner habe ich 16 Jahre zusammengelebt. Ich erkannte erst spät, dass auch diese Beziehung missbräuchlich war und trennte mich von ihm. Meine ganze Liebe und Wärme habe ich versucht, an meine Kinder weiterzugeben. Sie sind das Beste, was ich in meinem Leben gemacht habe.