Die Geschichten auf diesem Portal enthalten Schilderungen, die verstörend wirken können. Einige Worte oder Beschreibungen können negative Erinnerungen und unangenehme Gefühle auslösen. Falls Sie das Bedürfnis haben, mit jemanden darüber zu sprechen, nutzen Sie bitte die Angebote zur Beratung & Hilfe.
Ich bin in den 1970er-Jahren in der DDR in einem sehr kleinen Ort aufgewachsen. Über das, was passiert ist, habe ich sehr lange geschwiegen, und es wissen nur wenige Menschen davon.
Ich bin in einer sehr chaotischen Familie aufgewachsen, wo es viel Gewalt und Alkohol gab. Ich hatte eine Mutter, einen Stiefvater, zwei Brüder, zwei Halbbrüder, zwei Stiefbrüder. Wir alle lebten unter einem Dach. Wir Kinder waren nur Kinder. Das „nur“ im abgewerteten Sinn. Meine Brüder wurden geschlagen. Ich wurde nicht geschlagen, dafür wurde ich schlimm beschimpft, betitelt, abgewertet. Jemandem zu vertrauen, etwas anzuvertrauen, empfand ich als unmöglich. Irgendwann habe ich gemerkt, Heulen hilft dir nicht. Ich habe dann nur noch meine Gefühle runtergeschluckt und meinen Schmerz, Ärger oder meine Angst niemandem mehr gezeigt. Es gab in unserer Familie nur das gute oder das böse Kind. Böse wurde bestraft, Gut wurde ignoriert. So habe ich das wahrgenommen. Ich habe versucht gut zu sein, mich anzupassen, nicht beschimpft zu werden.
Meine Halbbrüder sind wesentlich jünger als ich. Mein Job war es, mich um die beiden zu kümmern. Ich habe die beiden echt geliebt, ich hätte alles für die Jungs getan. Ich muss sagen, dass mich das Kümmern irgendwie am Leben gehalten hat.
Das erste Mal ist es passiert, als ich ungefähr vier Jahre alt war. Die Person hat mich angefasst, wo es nicht sein darf. Er hat mich oft angefasst, wurde immer brutaler, hat mich emotional erpresst. Das ging so, bis ich ca. sieben oder acht Jahre alt war. Der Mann hatte in unserem Haus mit lebenslangem Wohnrecht gewohnt, und der Missbrauch hörte auf, weil er krank wurde und starb.
Mein Stiefbruder hat mich missbraucht, da war ich zehn oder elf Jahre alt. Es ist einmal passiert. Er hat mich bedroht, er wird mich umbringen, wenn ich jemals darüber spreche. Ich weiß, dass ich wahnsinnig große Angst hatte.
Das Schlimmste für mich war jedoch ein Nachbar, der in unserer Straße wohnte. Er kannte mich von klein auf. Ich weiß, dass ich große Angst vor ihm hatte, dass ich versucht habe, ihm aus dem Weg zu gehen, was ich aber selten geschafft habe. Wenn ich ihm dann doch in die Arme gelaufen bin, war ich einfach nur starr vor Angst. Hat er mich angefasst, tat er immer so, als sei es aus Versehen. Er hat mich mit Worten und Fragen sexueller Art auf eine sehr grenzüberschreitende Weise bedrängt. Ich war sehr jung und damit völlig überfordert. Aufgehört hat es, als ich mit 16 Jahren zur Ausbildung weggezogen bin.
Der Arzt war die erste Person, der überhaupt aufgefallen ist, dass was nicht stimmt.
Ich habe niemandem etwas gesagt. Ich hatte schon kleine Miniversuche gemacht, etwas zu sagen, aber ganz schnell wieder abgebrochen, da ich kein Gehör fand. Ich wusste nicht, dass das alles Missbrauch war. Ich dachte, das passiert mir, weil ich böse bin, das ist meine Strafe, ich bin selber schuld, ich habe nicht aufgepasst. Ich denke, dass auch meiner Mutter Missbrauch nicht in den Sinn gekommen wäre, zur damaligen Zeit in der DDR war das einfach kein Thema, was im Fernsehen oder in der Zeitung publiziert wurde. Ich denke, was mich gehindert hat, Hilfe zu holen, waren Schuld und Scham und der Gedanke, dass mir sowieso niemand glauben wird.
Dass das, was ich als Kind erlebt habe Missbrauch war, habe ich erst nach langer Zeit realisiert. Ich war als Kind total schüchtern und zurückhaltend, hatte wahnsinnige Angst vor Konsequenzen, hatte Angst irgendetwas falsch zu machen. Ich hatte Angst vor Menschen. Ich hatte totale Schuldgefühle, weil ich nichts richtig machen konnte. Und mir war wichtig, dass vor allem meine Familie nichts mitkriegt. Angetrieben alles richtig zu machen, habe ich die Schule und die Ausbildung ganz gut abgeschlossen. Während der Schulzeit hatte ich kaum Freunde. Ich hatte viel mit meinen Ängsten zu kämpfen. Damit zu kämpfen, wie ich nach Hause komme, ohne jemandem in Arme zu laufen, der mich belästigt. Das Lernen fiel mir schon schwer, einfach weil so viel anderes in meinem Kopf herumschwirrte, wie komme ich über den nächsten Tag.
Als ich ins Berufsleben eingestiegen bin, war da der Druck der Firma, allem gerecht zu werden. Ich habe immer weniger geschlafen. Dann hatte ich immer mal Aussetzer, Tage, in denen ich überhaupt nicht mehr normal denken und handeln konnte. Körperlich hatte ich viele Schmerzen. Ich war einige Male beim Arzt mit dem Ergebnis, mir fehle nichts, ich sei ein Hypochonder oder ich habe keine Lust zu arbeiten. Ich war jedes Mal froh, wenn ich beruflich meinen Standort wechseln konnte. Natürlich wurde nichts besser.
Ich habe mich öfters verbrannt, aber eben so, dass keine langfristigen Narben blieben. Leider habe ich es manchmal doch übertrieben und musste zum Arzt. Irgendwann ist der dann stutzig geworden, weil es so oft passierte und hat mich auch direkt darauf angesprochen. Ich habe alles abgestritten und den Arzt gewechselt. Was ich wirklich sagen muss, der Arzt war die erste Person, dem überhaupt aufgefallen ist, dass was nicht stimmt.
Heute lebe ich weit weg von allem. Ich habe stationäre und ambulante Therapien gemacht. Ich merke bei ganz vielen Dingen, dass die Gefühle und Körperreaktionen nicht meine heutigen erwachsenen sind, sondern die, als ich als Kind hatte. Die Angst macht mich passiv, lähmt mich. Ich habe mich so ziemlich zurückgezogen und habe recht wenige Kontakte. Ich würde gerne alles kontrollieren. Ich würde mich gerne vor allem verstecken.
Was ich noch wichtig finde, sind die positiven Sachen. Natürlich gibt es Fortschritte, langsam und klein. Ich habe viel Handwerkszeug gelernt, um Sachen nicht eskalieren zu lassen. Und manchmal kommen jetzt auch schöne Erinnerungen zurück.
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